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Frei nach Weber: spektakulärer Freischütz auf der Bregenzer Seebühne

Par , 22 juillet 2024

Man muss es zugeben: Im Original wirken die beiden Hauptfiguren reichlich bieder. Der herzensgute, aber ungeschickte Jägersbursche Max möchte die brave und fromme Tochter des Erbförsters heiraten, die nichts anderes zu tun weiß, als die ganze Zeit auf ihren Zukünftigen zu warten. Max, der seine Eignung als Gatte und Schwiegersohn mit einem Probeschuss unter Beweis stellen muss, ist in seiner Verzweiflung sogar bereit, sich auf die diabolischen Künste seines eifersüchtigen Kollegen Kaspar einzulassen. Das geht um ein Haar schief, aber mit Hilfe des Himmels kann die Katastrophe abgewendet und die Vereinigung des Paars in Aussicht gestellt werden.

Der Freischütz
© Bregenzer Festspiele | Anja Köhler

Bei der Neuproduktion von Carl Maria von Webers Freischütz an den diesjährigen Bregenzer Festspielen unternimmt es der Regisseur und Bühnenbildner Philipp Stölzl, die verstaubten Rollenbilder aus dem 19. Jahrhundert zu aktualisieren und einer heutigen Zuhörerschaft verständlich zu machen. Zudem richtet er sich an ein breites Publikum, das vielleicht noch nie eine Weber-Oper gesehen hat, aber einen hohen Unterhaltungswert erwartet.

Letzteres ist ihm zu hundert Prozent gelungen. Stölzl verwandelt den Freischütz in ein Riesenspektakel, das im Stil eines Horrorfilms durchexerziert wird. Dabei bezieht er die frisch sanierte Seebühne raffiniert in das Geschehen ein. Darauf erhebt sich ein verfallenes Dorf, dessen windschiefe Häuser zur Hälfte im Morast versunken sind. Es herrscht eine frostige Atmosphäre; die Gebäude sind von Schnee bedeckt. Die Zerstörungen und die Verrohung des Dreissigjährigen Kriegs haben überall ihre Spuren hinterlassen. Zwischen der Bühne und der Zuschauertribüne breitet sich ein Sumpf aus (technisch gesprochen ein etwa fünfundzwanzig Zentimeter tiefes Wasserbecken), in dem sich die Schlüsselszenen der Handlung abspielen.

Der Freischütz
© Bregenzer Festspiele | Daniel Ammann

Höhepunkt des Spektakels bildet die Wolfsschluchtszene: Ein lodernder Kreis umgibt den kugelgießenden Kaspar, Zombies schwimmen im Wasser um ihn herum. Max‘ untote Mutter warnt ihn aus ihrem Sarg heraus, seine Geliebte erlebt seinetwegen in ihrem gefährlich geneigten Bett einen hysterischen Anfall. Samiel erscheint auf dem Kopf eines feuerspeienden Drachens, das Dorf gerät in Brand, und der halbe Kirchturm fliegt in die Luft. Die technische Equipe und die Stunt-Truppe Wired Aerial Theatre lassen grüßen.  

Die Aktualisierung des Stoffs geschieht in erster Linie durch die gesprochenen Texte. Jan Dvořák hat das originale Libretto von Friedrich Kind durch eine komplett neue Fassung ersetzt. Auffälligstes Merkmal ist die Aufblähung der Rolle Samiels, der im Original nur in der Wolfsschluchtszene vorkommt. In Bregenz wird er, als der omnipräsente rote Teufel, zum Erzähler, Spielleiter und Drahtzieher des Geschehens. Moritz von Treuenfels greift ein, korrigiert, ironisiert, meistens nicht im Sinne Webers und seines Librettisten. „Wer auf mich baut, baut gut“, sagt er zu Max.

Moritz von Treuenfels (Samiel) und Christof Fischesser (Kaspar)
© Bregenzer Festspiele | Anja Köhler

Ein Nebeneffekt der neuen Dialogfassung besteht darin, dass sie zeitlich zu viel Raum einnimmt und im Gegenzug einschneidende Kürzungen bei den Musiknummern erfordert. Auch die von Ingo Ludwig Frenzel komponierte Bühnenmusik von Akkordeon, Kontrabass und Cembalo, welche die gesprochenen Dialoge gelegentlich begleitet, lenkt von Webers Musik ab. Aus der Oper Der Freischütz wird somit, ein Schauspiel mit musikalischen Einlagen von Carl Maria von Weber.

Dabei würde sich die stärkere Fokussierung auf Webers Musik durchaus lohnen. Die Wiener Symphoniker und der Prager Philharmonische Chor, wie immer drinnen im Festspielhaus musizierend, bringen unter der Leitung von Enrique Mazzola eine dramatische und farbenprächtige Interpretation zustande, die über ein ausgeklügeltes Lautsprechersystem ins Freie übertragen wird.

Die vier Hauptrollen der Premierenbesetzung (die auch bei der zweiten Vorstellung singt) zeigen sich von der besten Seite, obwohl sie unter schwierigsten Bedingungen singen müssen. Der Max von Mauro Peter gefällt mit einem wohlklingenden Tenor und spielt die Rolle als Amtsschreiber und Außenseiter in einer verrohten Jäger- und Bauernwelt ausgezeichnet. Der Kaspar von Christof Fischesser mit seiner abgrundtiefen Stimme, als Kriegsveteran gekennzeichnet, gibt den Bösewicht und Verführer wie im Lehrbuch.

Nikola Hillebrand (Agathe) und Katharina Ruckgaber (Ännchen)
© Bregenzer Festspiele | Anja Köhler

Die Agathe von Nikola Hillebrand brilliert mit einem fantastischen Sopran und einem vielschichtigen Charakter. Dass sie Max unbedingt heiraten will, deutet der Regisseur eigenwillig damit, dass sie bereits schwanger ist und durch die Hochzeit der erwarteten Schande entgehen will. Die Rolle ihrer Busenfreundin Ännchen, dargestellt von Katharina Ruckgaber, erfährt durch die Regie die krasseste Umdeutung. Die Kammerzofe Webers wird hier zu einer emanzipierten Frau von heute. Mit ihren lesbischen Neigungen versucht sie zudem, kräftig unterstützt durch Samiel, Agathe von ihrer Liebe zu Max abzubringen.

Große Mühe bereitet Stölzl offensichtlich der positive Schluss der Oper. Schon zu Beginn des Spiels, noch vor der Ouvertüre, hat der Regisseur seine Variante des Endes vorgeführt: Die durch den Probeschuss von Max tödlich getroffene Agathe wird begraben, während der Mörder Max erhängt wird. Nachdem die ganze Oper quasi als Rückblende gezeigt worden ist, erscheint dann beim „richtigen“ Probeschuss Samiel und erklärt dem verunsicherten Publikum, dass ihm nun der originale Schluss gnädigerweise doch nicht vorenthalten werden soll. Allerdings geht es dann auch hier nicht ohne Ironie: In den Kleidern des Eremiten, der als Deus ex Machina erscheint und das versöhnliche Ende der Lovestory ankündigt, steckt – oh Schreck – der teuflische Samiel.

Christof Fischesser (Kaspar)
© Bregenzer Festspiele | Daniel Ammann

Womit wir beim Kernpunkt der Kritik angelangt wären: In der ständigen Ironisierung und Pervertierung der Handlung liegt eine radikale und höchst problematische Umdeutung des Stücks vor. Weber und sein Librettist haben nicht umsonst den negativen Schluss ihrer Vorlage ins Positive gewendet. Es ging ihnen um den Kampf zwischen himmlischen und höllischen Mächten und um den Sieg des Guten über das Böse. In der Bregenzer Fassung des Freischütz ist davon nichts zu spüren. 

***11
A propos des étoiles Bachtrack
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Critique faite à Seebühne Bregenz, Bregenz, le 19 juillet 2024
Weber, Der Freischütz
Enrique Mazzola, Direction
Erina Yashima, Direction
Philipp Stölzl, Mise en scène, Décors, Lumières
Gesine Völlm, Costumes
Wiener Symphoniker
Bregenzer Festspielchor
Florian Schmitt, Lumières
Thomas Blondelle, Max
Attilio Glaser, Max
Mauro Peter, Max
Mandy Fredrich, Agathe
Nikola Hillebrand, Agathe
Elissa Huber, Agathe
Christof Fischesser, Kaspar
David Steffens, Kaspar
Oliver Zwarg, Kaspar
Hanna Herfurtner, Ännchen
Gloria Rehm, Ännchen
Katharina Ruckgaber, Ännchen
Liviu Holender, Ottokar
Johannes Kammler, Ottokar
Franz Hawlata, Kuno
Raimund Nolte, Kuno
Frederic Jost, L'ermite
Andreas Wolf, L'ermite
Maximilian Krummen, Kilian
Philippe Spiegel, Kilian
Moritz von Treuenfels, Samiel
Niklas Wetzel, Samiel
Wired Aerial Theatre, Acrobatics
Nina Stemme stars in an unforgettable Elektra in Baden-Baden
*****
Double trouble as two directors tackle new DNO Rusalka
***11
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****1
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