Man muss es zugeben: Im Original wirken die beiden Hauptfiguren reichlich bieder. Der herzensgute, aber ungeschickte Jägersbursche Max möchte die brave und fromme Tochter des Erbförsters heiraten, die nichts anderes zu tun weiß, als die ganze Zeit auf ihren Zukünftigen zu warten. Max, der seine Eignung als Gatte und Schwiegersohn mit einem Probeschuss unter Beweis stellen muss, ist in seiner Verzweiflung sogar bereit, sich auf die diabolischen Künste seines eifersüchtigen Kollegen Kaspar einzulassen. Das geht um ein Haar schief, aber mit Hilfe des Himmels kann die Katastrophe abgewendet und die Vereinigung des Paars in Aussicht gestellt werden.
Bei der Neuproduktion von Carl Maria von Webers Freischütz an den diesjährigen Bregenzer Festspielen unternimmt es der Regisseur und Bühnenbildner Philipp Stölzl, die verstaubten Rollenbilder aus dem 19. Jahrhundert zu aktualisieren und einer heutigen Zuhörerschaft verständlich zu machen. Zudem richtet er sich an ein breites Publikum, das vielleicht noch nie eine Weber-Oper gesehen hat, aber einen hohen Unterhaltungswert erwartet.
Letzteres ist ihm zu hundert Prozent gelungen. Stölzl verwandelt den Freischütz in ein Riesenspektakel, das im Stil eines Horrorfilms durchexerziert wird. Dabei bezieht er die frisch sanierte Seebühne raffiniert in das Geschehen ein. Darauf erhebt sich ein verfallenes Dorf, dessen windschiefe Häuser zur Hälfte im Morast versunken sind. Es herrscht eine frostige Atmosphäre; die Gebäude sind von Schnee bedeckt. Die Zerstörungen und die Verrohung des Dreissigjährigen Kriegs haben überall ihre Spuren hinterlassen. Zwischen der Bühne und der Zuschauertribüne breitet sich ein Sumpf aus (technisch gesprochen ein etwa fünfundzwanzig Zentimeter tiefes Wasserbecken), in dem sich die Schlüsselszenen der Handlung abspielen.
Höhepunkt des Spektakels bildet die Wolfsschluchtszene: Ein lodernder Kreis umgibt den kugelgießenden Kaspar, Zombies schwimmen im Wasser um ihn herum. Max‘ untote Mutter warnt ihn aus ihrem Sarg heraus, seine Geliebte erlebt seinetwegen in ihrem gefährlich geneigten Bett einen hysterischen Anfall. Samiel erscheint auf dem Kopf eines feuerspeienden Drachens, das Dorf gerät in Brand, und der halbe Kirchturm fliegt in die Luft. Die technische Equipe und die Stunt-Truppe Wired Aerial Theatre lassen grüßen.
Die Aktualisierung des Stoffs geschieht in erster Linie durch die gesprochenen Texte. Jan Dvořák hat das originale Libretto von Friedrich Kind durch eine komplett neue Fassung ersetzt. Auffälligstes Merkmal ist die Aufblähung der Rolle Samiels, der im Original nur in der Wolfsschluchtszene vorkommt. In Bregenz wird er, als der omnipräsente rote Teufel, zum Erzähler, Spielleiter und Drahtzieher des Geschehens. Moritz von Treuenfels greift ein, korrigiert, ironisiert, meistens nicht im Sinne Webers und seines Librettisten. „Wer auf mich baut, baut gut“, sagt er zu Max.
Ein Nebeneffekt der neuen Dialogfassung besteht darin, dass sie zeitlich zu viel Raum einnimmt und im Gegenzug einschneidende Kürzungen bei den Musiknummern erfordert. Auch die von Ingo Ludwig Frenzel komponierte Bühnenmusik von Akkordeon, Kontrabass und Cembalo, welche die gesprochenen Dialoge gelegentlich begleitet, lenkt von Webers Musik ab. Aus der Oper Der Freischütz wird somit, ein Schauspiel mit musikalischen Einlagen von Carl Maria von Weber.
Dabei würde sich die stärkere Fokussierung auf Webers Musik durchaus lohnen. Die Wiener Symphoniker und der Prager Philharmonische Chor, wie immer drinnen im Festspielhaus musizierend, bringen unter der Leitung von Enrique Mazzola eine dramatische und farbenprächtige Interpretation zustande, die über ein ausgeklügeltes Lautsprechersystem ins Freie übertragen wird.
Die vier Hauptrollen der Premierenbesetzung (die auch bei der zweiten Vorstellung singt) zeigen sich von der besten Seite, obwohl sie unter schwierigsten Bedingungen singen müssen. Der Max von Mauro Peter gefällt mit einem wohlklingenden Tenor und spielt die Rolle als Amtsschreiber und Außenseiter in einer verrohten Jäger- und Bauernwelt ausgezeichnet. Der Kaspar von Christof Fischesser mit seiner abgrundtiefen Stimme, als Kriegsveteran gekennzeichnet, gibt den Bösewicht und Verführer wie im Lehrbuch.
Die Agathe von Nikola Hillebrand brilliert mit einem fantastischen Sopran und einem vielschichtigen Charakter. Dass sie Max unbedingt heiraten will, deutet der Regisseur eigenwillig damit, dass sie bereits schwanger ist und durch die Hochzeit der erwarteten Schande entgehen will. Die Rolle ihrer Busenfreundin Ännchen, dargestellt von Katharina Ruckgaber, erfährt durch die Regie die krasseste Umdeutung. Die Kammerzofe Webers wird hier zu einer emanzipierten Frau von heute. Mit ihren lesbischen Neigungen versucht sie zudem, kräftig unterstützt durch Samiel, Agathe von ihrer Liebe zu Max abzubringen.
Große Mühe bereitet Stölzl offensichtlich der positive Schluss der Oper. Schon zu Beginn des Spiels, noch vor der Ouvertüre, hat der Regisseur seine Variante des Endes vorgeführt: Die durch den Probeschuss von Max tödlich getroffene Agathe wird begraben, während der Mörder Max erhängt wird. Nachdem die ganze Oper quasi als Rückblende gezeigt worden ist, erscheint dann beim „richtigen“ Probeschuss Samiel und erklärt dem verunsicherten Publikum, dass ihm nun der originale Schluss gnädigerweise doch nicht vorenthalten werden soll. Allerdings geht es dann auch hier nicht ohne Ironie: In den Kleidern des Eremiten, der als Deus ex Machina erscheint und das versöhnliche Ende der Lovestory ankündigt, steckt – oh Schreck – der teuflische Samiel.