Giuseppe Verdis Oper Simon Boccanegra, welche am 10.10. in der Staatsoper München aufgeführt wurde, besteht aus einem Prolog, 3 Akten und 5 Bildern. So zumindest verspricht es das Programmheft. Der hochgelobte russische Regisseur Dmitri Tcherniakov reduziert die Bühne jedoch auf ein einziges Bild, nämlich Edward Hoppers berühmtes Gemälde Nighthawks. Tcherniakov verwendet Hoppers Barszene im Prolog der Oper als ästhetisches und psychologisches Kernelement. „Wir sehen das Café auf der Bühne und wissen sofort: Das habe ich schon einmal irgendwo gesehen,“ schreibt der Regisseur über sein Konzept. Dieses Bild sitzt „wie eine Nadel im Gehirn“, nicht nur der Zuschauer, sondern insbesondere im Gehirn des Simon Boccanegra. Dessen Tragik besteht ja gerade darin, dass er wider Willen zum Dogen gewählt und so politische Machtspiele zu seinem unfreiwilligen Lebensinhalt werden, obgleich er sich Zeit seines Lebens nach privatem Glück sehnt.
Bereits im Prolog muss Boccanegra allerdings mit der Entdeckung des Todes seiner geliebten Braut Maria erkennen, dass dieses Glück für ihn unerreichbar ist. Die Erinnerung an diese schicksalshafte Szene erhebt Tcherniakov zum Leitmotiv, das er im Verlaufe des Abends virtuos variiert und verarbeitet, indem er beispielsweise eine Projektion dieser Szene zu Beginn des zweiten Aktes - also 25 Jahre später - in ein Gemälde zoomt, das dann an der Wand der Grimaldi-Villa hängt, in der auch Boccanegra ein und aus geht. Tcherniakov war von seiner Idee offenbar so angetan, dass er sich über die gesamte Oper hinweg daran abarbeitet und damit leider den psychologischen Stoff des Melodramas auf diesen Bruch in der Biographie Boccanegras reduziert. Der zentrale Konflikt der komplizierten Vater-Tochter-Beziehung zwischen Boccanegra und Amelia Grimaldi, die ja eigentlich Maria Boccanegra ist, wird weder in der Bühnen- noch in der Personenregie angemessen verarbeitet, obwohl im Oeuvre Giuseppe Verdis gerade der Konflikt zwischen Vater und Tochter, beispielsweise in Luisa Miller oder Rigoletto, eine elementare Stellung einnimmt.
Dass der Abend nicht zum reinen Regietheater wurde, lag an der großartigen Leistung aller Sängerinnen und Sänger (inklusive Chor) und der Erzählkunst des Bayerischen Staatsorchesters unter dem französischen Dirigenten Bertrand de Billy. Bei Giuseppe Verdi ist das Orchester integraler Bestandteil der Opernerzählung und gestaltet wie ein weiterer Protagonist den Handlungsstrang. Verdi hebt in seinen Opern gleichsam das Orchester immer wieder auf die Bühne, um nicht nur aus dem Orchestergraben, sondern auf Augenhöhe mit den Sängern in den musikalischen Dialog zu treten. Auch den Chor emanzipiert Verdi einzigartig, indem er nicht nur wie eine eigenständige Person mit den Hauptrollen interagiert, sondern auch in einigen Passagen die Rolle des Orchesters einnimmt, wenn in Rezitativen nur noch Chor und Sänger übrig bleiben. Diese psychologisch facettenreichen musikalischen Schilderungen gelangen den beteiligten Musikern äußerst überzeugend. Dank der feingliedrigen Verbindungen zwischen den Spannungsbögen der lyrisch-dramatischen Arien wurde der Abend zu einem musikalischen Hochgenuss.