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Verlorenes Paradies: Die ersten Menschen an der Oper Frankfurt

Par , 09 juillet 2023

Als der in Worms geborene Komponist Rudi Stephan 1915 während des Ersten Weltkriegs in Tarnopol, der heutigen Ukraine, fiel, war er gerade einmal 28 Jahre alt. Viel zu früh verstarb der spätromantische Komponist und hinterließ nur eine einzige Oper. Von seinem Nachlass hat nur überlebt, was bereits veröffentlicht oder beim Verlag hinterlegt war. Ein Glück, denn so kam das Publikum der Oper Frankfurt schon 1920 in den „Genuss“ der Ersten Menschen, einer einzigartigen und auch heute an Aktualität nichts einbüßender Oper. Etwa einhundert Jahre später und nach circa 500 Tagen Ukraine-Krieg scheint die Platzierung dieses Werks im Spielplan der Städtischen Bühnen ebenso passend wie aufrüttelnd.

Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel)
© Matthias Baus

Das zweistündige Werk erzählt scheinbar nur vordergründig vom „ersten Mord der Menschheit“, denn dank Tobias Kratzers Inszenierung wird die Oper zu einem musikalischen wie szenischen Ouroboros zwischen Anfang und Ende, Werden und Vergehen und einem Wechselspiel zwischen Leben und Tod. Die ersten Menschen ist musikalisch hochexpressiv, rau, lebendig, schockierend; zugleich auch sinnlich und verführerisch und wirft zudem existenzielle Fragen über Sinnhaftigkeit und Wert des Lebens auf. Brutal verstörend und dennoch faszinierend hält das Werk einen fest im Griff – gefangen zwischen Ekel und Gebanntheit, sodass man nicht wegsehen oder -hören kann.

Der Text von Otto Borngräber scheint der dysfunktionalen Familie von Strauss' Elektra noch eins draufsetzen zu wollen – ein Eindruck, den Kratzer gern annimmt und nochmals intensiviert. Adam und Eva – hier Adahm und Chawa – bilden ein perfektes Paar aus Yin und Yang; Gegensätze, die sich zunächst angezogen haben, aber nun auf konfliktzulaufende Art abstoßen. Sie ist alltagsmüde, voller unerfüllter Sehnsüchte und Lust. Er scheint dagegen borniert rational, nur seine Arbeit im Blick und kann bei Chawa nur den Herbst des Lebens attestieren, während sie sich ihrer Meinung nach noch in voller Blüte fühlt.

Die ersten Menschen
© Matthias Baus

Und auch ihre Söhne Kaijn und Chawel könnten unterschiedlicher nicht sein. Während Chawel Erfüllung in der Suche nach dem Allmächtigen findet, brodelt in Kaijn ein zutiefst verstörender und all seine Gedanken einnehmenden Triebhaftigkeit, die sich gegen ein „wildes Weib“ richtet, doch mangels Vorhandensein eines solchen Weibes, sich inzestuös gegen seine Mutter projiziert.

Alle vier treiben existenzielle Fragen um und alle versuchen sie diesen auf ihre eigene Weise beizukommen. So eskaliert die Handlung unweigerlich innerhalb dieses postapokalyptischen Alptraums, bei dem der Begriff der nuklearen Familie eine ganz neue, dystopische Wendung erhält.

Das Bühnenbild (von Rainer Sellmaier) über dem Bunker erinnert in seiner Trostlosigkeit an Tarkowskis Stalker, mit seiner desolaten, verlassenen und lebensfeindlichen Einöde, durch die ein einsamer Wolfshund wandelt, während unter der Erde eine heile Welt fingiert und aufrechterhalten wird. Tobias Kratzer stellt das Szenario aus dem ersten Buch Moses auf den Kopf und macht aus den ersten Menschen die letzten Menschen. Das Paradies ist längst verloren und so scheinen die letzten Bewohner dieser untergegangenen Welt selbst wenig zu verlieren zu haben. Eine morbide Todessehnsucht gepaart mit Lebensmüdigkeit und der Hang zur Selbstzerstörung liegen in der Luft.

Ian Koziara (Chabel)
© Matthias Baus

Kratzer spielt mit den Gegensätzen und der Spannung zwischen dem Zauber des Anfangs und der Ernüchterung des Endes. Auf überraschend logische Weise funktioniert sein Herangehen an dieser eigentlich ersten Geschichte der Menschheit, indem er seine Inszenierung als ihr letztes Kapitel entgegensetzt und dem Ende der Oper – so viel sei verraten – erneut die Möglichkeit eines Neuanfangs anbietet.

Dieses Kammerspiel mit nur vier Personen lebt von seiner Besetzung, die allesamt Charakterdarsteller*innen sind: Ambur Braid als leidenschaftliche, brennende Chawa mit voluminös-laszivem Sopran; Andreas Bauer Kanabas mit in sich ruhendem, intensiv-warmen Basstimbre; Iain MacNeil als ewig Getriebener mit kraftvoll-viriler Baritonstimme und Ian Koziaras tiefer und dennoch strahlkräftiger Tenor – sie alle erheben diese Wiederentdeckung zu einer hörens- wie sehenswerten Oper.

Ambur Braid (Chawa), Ian Koziara (Chabel) und Iain MacNeil (Kajin)
© Matthias Baus

Für den bald scheidenden GMD des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters Sebastian Weigle ist es ein ungewöhnliches Abschiedswerk. Es ist seine letzte Premiere und zugleich seine letzte Spielzeit an der Oper Frankfurt. Dennoch ist die Wahl des musikalischen Genres der Spätromantik überaus passend und fügt sich blendend in seine Interpretationen zahlreicher Werke des frühen 20. Jahrhunderts ein, besonders die Opern von Richard Strauss, bei denen er stets ein besonderes Gespür und Feingefühl bewies. Weigle verstand den Charakter und die Vielschichtigkeit der Musik und lässt sie in seiner atmosphärischen Dichte atmen. Ausdrucksstark, dennoch nie die Sänger*innen einschnürend, gelang ihm die Balance zwischen laut und leise. Er lässt das Orchester langsam anschwellen, steigert sich gemächlich, aber kontinuierlich zu hochexpressiven Orchestertutti, um dann sofort wieder zu zart fließenden Streicherläufen, die einen feingliedrigen Klangteppich für eine ungewöhnliche Orchestrierung bilden, u.a. mit Saxophon und Englischhorn, zurückzufinden.

Ambur Braid (Chawa) und Iain MacNeil (Kajin)
© Matthias Baus

Rudi Stephans Musik lässt all dies zu, denn die Partitur ist durchsetzt von eben diesen Extremen. Die ersten Menschen ist ein Kind des Expressionismus und dennoch ist die Musik durchwoben von spätromantischen Klängen eines Wagner und Strauss, aber auch andere Zeitgenossen wie Schreker und Zemlinsky scheinen durch.

Sebastian Weigle, der das Frankfurter Opern- und Museumsorchester 15 Jahre geleitet hat, kann auf eine eindrucksvolle Zeit und ein breitgefächertes Repertoire zurückblicken, das besonders im Opernbetrieb seinesgleichen suchen mag. So wird seine „Abschlussarbeit“ zu einer Art Testament seines Schaffens und Könnens, auch fernab des bekannten Repertoires.

*****
A propos des étoiles Bachtrack
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“dank Kratzer wird die Oper zu einem Ouroboros zwischen Anfang und Ende, Werden und Vergehen”
Critique faite à Oper Frankfurt, Frankfurt am Main, le 6 juillet 2023
Stephan, Die ersten Menschen
Oper Frankfurt
Sebastian Weigle, Direction
Tobias Kratzer, Mise en scène
Rainer Sellmaier, Décors, Costumes
Joachim Klein, Lumières
Frankfurter Opern- und Museumsorchester
Bettina Bartz, Dramaturgie
Konrad Kuhn, Dramaturgie
Andreas Bauer Kanabas, Adahm
Iain MacNeil, Kajin
Ambur Braid, Chawa
Ian Koziara, Chabel
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