Als der in Worms geborene Komponist Rudi Stephan 1915 während des Ersten Weltkriegs in Tarnopol, der heutigen Ukraine, fiel, war er gerade einmal 28 Jahre alt. Viel zu früh verstarb der spätromantische Komponist und hinterließ nur eine einzige Oper. Von seinem Nachlass hat nur überlebt, was bereits veröffentlicht oder beim Verlag hinterlegt war. Ein Glück, denn so kam das Publikum der Oper Frankfurt schon 1920 in den „Genuss“ der Ersten Menschen, einer einzigartigen und auch heute an Aktualität nichts einbüßender Oper. Etwa einhundert Jahre später und nach circa 500 Tagen Ukraine-Krieg scheint die Platzierung dieses Werks im Spielplan der Städtischen Bühnen ebenso passend wie aufrüttelnd.
Das zweistündige Werk erzählt scheinbar nur vordergründig vom „ersten Mord der Menschheit“, denn dank Tobias Kratzers Inszenierung wird die Oper zu einem musikalischen wie szenischen Ouroboros zwischen Anfang und Ende, Werden und Vergehen und einem Wechselspiel zwischen Leben und Tod. Die ersten Menschen ist musikalisch hochexpressiv, rau, lebendig, schockierend; zugleich auch sinnlich und verführerisch und wirft zudem existenzielle Fragen über Sinnhaftigkeit und Wert des Lebens auf. Brutal verstörend und dennoch faszinierend hält das Werk einen fest im Griff – gefangen zwischen Ekel und Gebanntheit, sodass man nicht wegsehen oder -hören kann.
Der Text von Otto Borngräber scheint der dysfunktionalen Familie von Strauss' Elektra noch eins draufsetzen zu wollen – ein Eindruck, den Kratzer gern annimmt und nochmals intensiviert. Adam und Eva – hier Adahm und Chawa – bilden ein perfektes Paar aus Yin und Yang; Gegensätze, die sich zunächst angezogen haben, aber nun auf konfliktzulaufende Art abstoßen. Sie ist alltagsmüde, voller unerfüllter Sehnsüchte und Lust. Er scheint dagegen borniert rational, nur seine Arbeit im Blick und kann bei Chawa nur den Herbst des Lebens attestieren, während sie sich ihrer Meinung nach noch in voller Blüte fühlt.
Und auch ihre Söhne Kaijn und Chawel könnten unterschiedlicher nicht sein. Während Chawel Erfüllung in der Suche nach dem Allmächtigen findet, brodelt in Kaijn ein zutiefst verstörender und all seine Gedanken einnehmenden Triebhaftigkeit, die sich gegen ein „wildes Weib“ richtet, doch mangels Vorhandensein eines solchen Weibes, sich inzestuös gegen seine Mutter projiziert.
Alle vier treiben existenzielle Fragen um und alle versuchen sie diesen auf ihre eigene Weise beizukommen. So eskaliert die Handlung unweigerlich innerhalb dieses postapokalyptischen Alptraums, bei dem der Begriff der nuklearen Familie eine ganz neue, dystopische Wendung erhält.
Das Bühnenbild (von Rainer Sellmaier) über dem Bunker erinnert in seiner Trostlosigkeit an Tarkowskis Stalker, mit seiner desolaten, verlassenen und lebensfeindlichen Einöde, durch die ein einsamer Wolfshund wandelt, während unter der Erde eine heile Welt fingiert und aufrechterhalten wird. Tobias Kratzer stellt das Szenario aus dem ersten Buch Moses auf den Kopf und macht aus den ersten Menschen die letzten Menschen. Das Paradies ist längst verloren und so scheinen die letzten Bewohner dieser untergegangenen Welt selbst wenig zu verlieren zu haben. Eine morbide Todessehnsucht gepaart mit Lebensmüdigkeit und der Hang zur Selbstzerstörung liegen in der Luft.