Gustav Mahler selbst hat Bezüge zwischen seiner Sechsten und tragischen Ereignissen in seinem Leben gesehen. Irgendwie scheint sich das Attribut „tragisch“ festgesetzt zu haben, und es ist gut möglich, dass es zugleich ein Grund dafür war, dass diese Symphonie beim Publikum lange Zeit auf wenig Gegenliebe gestoßen ist. Zum Glück scheint sich das mittlerweile etwas gewandelt zu haben.
Gewiss, im vierten und letzten Satz bricht Tragik in die Symphonie ein: Tragisch ist der Satz nicht nur in seiner Grundstimmung, sondern auch in seiner Vorwegnahme von Mahlers „Katastrophenjahr“ 1907, in dem er (und Alma) ein Kind verloren und Mahler eine fatale medizinische Diagnose erhielt; ein Jahr, welches ihn zudem seine Stelle an der Wiener Oper kostete.
Musikologen versuchen offenbar, diesen Aspekt der Tragik auch in den anderen Sätzen zu finden, und machen das am Vorkommen von gewissen Akkordfolgen fest; selbst das Programmheft spricht von „tiefschwarzer Negativität“. Zugleich geben Wissenschaftler zu, dass die Symphonie in einer Zeit entstanden ist, die Mahler und seine Frau Alma als glücklich empfunden haben. Die Kardinalfrage lautet doch: Ist es gerechtfertigt, die Symphonie als tragisch zu bezeichnen, wenn das nur einen Teil des Werks betrifft (mit dem Risiko, dass das Werk deswegen geächtet wird)? Wichtig scheint mir, wie die Symphonie insgesamt wirkt. Zudem könnte man behaupten, tragische Momente fänden sich in allen Symphonien dieses Komponisten.
Es ist sicher kein Zufall, dass David Zinman, der zwischen 2006 und 2010 sämtliche Mahler-Symphonien mit dem Tonhalle-Orchester aufgenommen hat, jetzt, als Ehrendirigent, gerade diese Sechste auf das Programm gesetzt hat. Ist es unter Mahlers Symphonien gar seine liebste?
Der erste Satz beginnt mit martialischen Marschrhythmen, die Stimmung ist ernst – zu Anfang. David Zinman ist mit dieser Musik zutiefst vertraut; er dirigiert mit klarer, präziser Zeichensprache und das Orchester weiß genau, wie es auf die Gestik des Dirigenten reagieren muss. Die Musiker sind auch mit voller Konzentration bei der Sache, spielen zweifelsohne mit der Qualität und Präsenz, die ihnen Zinman über lange Jahre anerzogen hat. Der Orchesterklang ist klar, transparent, die Koordination hervorragend, die dynamische Spanne sehr eindrücklich und der Streicherklang satt und homogen. Ausgezeichnet fand ich die Gestaltung der Steigerungswellen, die agogisch sorgfältigen Übergänge, das Ausleben der Melodien. Überhaupt diese wundervollen Gesangslinien: schon bald nach dem martialischen Beginn setzen sie ein, kommen später ausgiebig zum Tragen, speziell in den Violinen. Trotz der ernsten Partien dominiert diese Melodik meines Erachtens den Satz; ich genoss wunderbare, teils luzide, ja heitere, manchmal ausgelassene Musik – die Tragik bleibt aus meiner Sicht episodisch. Es ist allerdings durchaus möglich, dass sich seit Mahlers Zeit unser musikalisches Empfinden gewandelt hat, dass demnach Zuhörer zu Anfang des 20. Jahrhunderts die tragischen Aspekte stärker gewichtet haben.