Wieviel Staub setzt eine Operninszenierung im Lauf von mehr als vier Jahrzehnten an? 1977 inszenierte Jean-Pierre Ponnelle an der Wiener Staatsoper Mozarts Figaro und war bei der Kritik nicht unbedingt beliebt. „Schafft den Ponnelle fort“ war da in einer Zeitung sogar zu lesen. Inzwischen ist diese Inszenierung, die Ponnelle übrigens auch für einen Opernfilm umarbeitete, für viele schlicht Kult, und wer sie jetzt als Stream ansah, konnte dem durchaus beipflichten.
Wie Ponnelle den Figuren alles negativ Opernhafte ausgetrieben hat, wie er sie als Individuen gestaltet, ihre Psychologie entfaltet, ihre Konstellation zu den anderen Figuren herausarbeitet, ist immer noch gültig. Das zeigt sich bereits in der ersten Szene, in der Figaro für das bevorstehende Zusammenleben mit seiner Susanna das Bett ausmisst und dabei die Vorzüge preist, die die Nachbarschaft zum Zimmer des Grafen habe, was Susanna sogleich korrigiert: Dann habe es der Graf aber auch nicht weit zu ihr, und auch wenn dieser auf das feudale Ius primae noctis, das Recht, als erster mit einer Braut zu schlafen, verzichtet habe, so wolle er ihr doch immer noch an die Wäsche, und genau das tut er denn auch, kaum ist er mit Susanna allein. Ponnelle nimmt die Figuren ernst. Noch während er sich hinter einem Sessel versteckt, kann der Graf das Grapschen nach ihrem Arm nicht lassen. Und wenn Susanna im dritten Akt scheinbar auf seine Avancen eingeht, dann lässt sie, um glaubhaft zu wirken, sogar einen Kuss zu.
In einer solchen Regie werden die Figuren glaubhafte Menschen wie du und ich. Ponnelle hat Libretto und Partitur genau durchleuchtet. Wenn der Graf im dritten Akt seinen Kontrahenten Rache schwört, dann tut er das mit einem Arientyp der Opera seria; die aber war zu diesem Zeitpunkt bereits als Mode passé, der Graf entlarvt sich als einer vergangenen Epoche angehörig; und so zieht er bei Ponnelle in dieser Szene einen Mantel mit Hermelinkragen an, stülpt sich am Ende sogar noch eine Perücke über – und verwandelt sich in einen Feudalherren alter Zeit. In dieser Arie kostete Andrè Schuen die Kraft seiner Stimme aus, blieb aber über weite Strecken doch etwas farblos.
Figaro dagegen ist mit seiner Agilität auf der Höhe seiner Zeit. Wenn er dem Grafen im ersten Akt droht, er solle sich in Acht nehmen, wenn er ein „Tänzchen wagen“ wolle, dann sitzt er lässig im Sessel und malt sich genüsslich aus, wie das wohl sein werde. Mehr als ein solcher Traum aber wird nicht daraus, und so ist Figaro bei Ponnelle sehr zu Recht eher ein junger Mann, der in sich noch den Lausbuben bewahrt hat. Philippe Sly fand für diese Charakterisierung die idealen Töne. Sehr differenziert gestaltete er die jeweiligen Situationen stimmlich, stellt dem jungen Cherubino die Existenz als Soldat plastisch vor, die ihm droht. Das ist brillante Charakterisierung mit rein stimmlichen Mitteln.