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Zwischen Symbolismus und Partyrealität: Richard Strauss' Salome an der Mailänder Scala

Par , 23 février 2021

Bei Richard Strauss sind es „nur“ die Blicke, die Salome belästigen – die lüsternen ihres Stiefvaters Herodes, die verliebten des in Salome verliebten Hauptmanns Narraboth und die naiv-bewundernden des Soldaten. In Damiano Michielettos Inszenierung an der Mailänder Scala, deren Premiere erst verschoben und nun als Stream ausgestrahlt wurde, geht es ungleich drastischer zu. Hier bedrängt Herodes Salome auch körperlich und Michieletto bringt die ganze Vorgeschichte auf die Bühne. Da erscheint an einer Wand der Stammbaum, der zeigt, dass Salomes Vater tot ist – sein Name ist rot durchgekreuzt – und dass Salomes Mutter dessen Bruder geheiratet hat. Da taucht Salome als Mädchen auf, dem beim Zubettgehen eine Puppe geschenkt wird. Diese junge Salome wird es gegen Ende der Oper auch sein, die der älteren bedeutet, dem Wunsch des Herodes, für ihn zu tanzen, nachzukommen.

Und auch dieser Tanz nimmt bei Michieletto drastische Züge an. So, wie er im Libretto angedeutet wird, kommt er ja ohnehin längst nicht mehr auf die Bühne. In Kirill Serebrennikows Inszenierung an der Oper Stuttgart 2015 hat sich Salome immerhin noch ein Tütü angezogen, verzichtet aber dann auf jeden Tanzschritt, und wenn bei Michieletto jemand tanzt, dann allenfalls die Männer, die auf die Bühne gekommen sind und Salome zunehmend belästigen, ja vergewaltigen, am Ende hat sie ein mit Blut getränktes Kleid an. Und sie ist nicht die einzige, die hier vergewaltigt wird, denn Herodes hat sich derweil mit der jungen Salome in ein Hinterzimmer verzogen, in dem es dann wohl heftig zuging, denn als die Schiebetür sich wieder öffnet, sind die Möbel umgestürzt.

Michieletto inszeniert mit dieser Salome ein Missbrauchsopfer – und eine durch den gewaltsamen Tod des Vaters traumatisierte junge Frau. An der Stelle, an der zuvor Jochanaan auf Salomes Wunsch hin aus der Zisterne, in der er gefangengehalten wird, emporsteigt, erhebt sich später der Grabstein von Salomes Vaters – Jochanaan als eine Art Vaterprojektion? Michielettos Inszenierung regt zu vielerlei Gedanken an. Jochanaans Kopf liegt am Ende auch nicht als blutiger Schädel auf dem silbernen Tablett, sondern erhebt sich in einem Strahlenkranz wie in dem Zyklus, den Gustave Moreau 1876 gemalt hat.

Ob freilich die fünf Todesengel mit den schwarzen Schwingen auf die Bühne kommen mussten und nahezu ständig Präsenz zeigen, nur weil Jochanaan davon spricht, er höre die Flügel des Todesengels durch den Palast rauschen, bleibe dahingestellt. Und auch die große glänzende schwarze Kugel, die sich herabsenkt und  von Salome zum Schwingen gebracht wird, wirkt wie ein bedeutungsschwangeres Symbol, ohne dass sich deren Sinn erschlösse. Und warum Jochanaan mit behaarten Gliedmaßen wie ein Neandertaler auf die Bühne kommen muss, bleibt unerfindlich. Doch das wiegt gering bei einer durchdachten Inszenierung, in der auch die Figuren gut charakterisiert sind – der geile Herodes, den Gerhard Siegel mit klarem, schneidend scharfem Tenor grandios herausmeißelt; die Herodias, die Linda Watson als herrische Partylöwin mimt.

Gesanglich ist die Produktion ein Fest der schönen, zugleich aber immer auch dramatisch überzeugenden Stimmen: Wolfgang Koch ist ein erfahrener Jochanaan, den er mit volltönender Stimme als selbstgewiss, in sich ruhend und von seiner Botschaft überzeugten Propheten gestaltete. Und Elena Stikhina bringt alles mit, was man für die Salome braucht: einen herrlich jugendlichen, leichten, lyrischen Sopran ebenso wie ein herrisches Herausstoßen der Töne, eine hohe Dramatik und einen betörenden Wohlklang – der Inbegriff dieser schweren Rolle. Riccardo Chailly, der für Zubin Mehta einsprang, lotete die Partitur sehr detailfreudig aus. Da hört man jede Nebenstimme, und auch die Opulenz des Klangs ist vorhanden, auch wenn das am heimischen Fernsehapparat nicht ganz so deutlich werden kann wie im Opernhaus.

Und dann sind da die zahlreichen szenischen Andeutungen, die zum Nachdenken anregen. So sieht die Puppe der jungen Salome wie Jochanaan aus. Der Prophet trägt ein Lamm im Arm, Vorausdeutung seiner Prophezeiung auf das Lamm Gottes. Das siegessichere Lächeln Salomes, als Herodes ihr alles verspricht, was sie sich wünsche, ist zweideutig, drückt die Vorfreude auf den Kopf des Propheten, der sie verschmäht hatte, ebenso aus wie Genugtuung, sich an dem Stiefvater rächen zu können, der Jochanaan ja nicht opfern will. Das ist ein Inszenierung, die den Betrachter auch nach Ende der Oper nicht ruhen lässt.


Die Vorstellung wurde vom Livestream der Mailänder Scala rezensiert.

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“Elena Stikhina bringt alles mit, was man für die Salome braucht”
Critique faite à Teatro alla Scala, Milan, le 20 février 2021
Strauss R., Salomé
Teatro alla Scala
Riccardo Chailly, Direction
Damiano Michieletto, Mise en scène
Paolo Fantin, Décors
Carla Teti, Costumes
Alessandro Carletti, Lumières
Elena Stikhina, Salomé
Wolfgang Koch, Jochanaan
Linda Watson, Hérodias
Gerhard Siegel, Hérode Antipas
Attilio Glaser, Narraboth
Thomas Tatzl, premier Nazaréen
Manuel Walser, second Nazaréen
Sorin Coliban, premier soldat
Sejong Chang, second soldat
Matthäus Schmidlechner, premier Juif
Matthias Stier, deuxième Juif
Patrick Vogel, troisième Juif
Thomas Ebenstein, quatrième Juif
Andrew Harris, cinquième Juif
Lioba Braun, le page de Hérodias
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Orchestra del Teatro alla Scala
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