Bei Richard Strauss sind es „nur“ die Blicke, die Salome belästigen – die lüsternen ihres Stiefvaters Herodes, die verliebten des in Salome verliebten Hauptmanns Narraboth und die naiv-bewundernden des Soldaten. In Damiano Michielettos Inszenierung an der Mailänder Scala, deren Premiere erst verschoben und nun als Stream ausgestrahlt wurde, geht es ungleich drastischer zu. Hier bedrängt Herodes Salome auch körperlich und Michieletto bringt die ganze Vorgeschichte auf die Bühne. Da erscheint an einer Wand der Stammbaum, der zeigt, dass Salomes Vater tot ist – sein Name ist rot durchgekreuzt – und dass Salomes Mutter dessen Bruder geheiratet hat. Da taucht Salome als Mädchen auf, dem beim Zubettgehen eine Puppe geschenkt wird. Diese junge Salome wird es gegen Ende der Oper auch sein, die der älteren bedeutet, dem Wunsch des Herodes, für ihn zu tanzen, nachzukommen.
Und auch dieser Tanz nimmt bei Michieletto drastische Züge an. So, wie er im Libretto angedeutet wird, kommt er ja ohnehin längst nicht mehr auf die Bühne. In Kirill Serebrennikows Inszenierung an der Oper Stuttgart 2015 hat sich Salome immerhin noch ein Tütü angezogen, verzichtet aber dann auf jeden Tanzschritt, und wenn bei Michieletto jemand tanzt, dann allenfalls die Männer, die auf die Bühne gekommen sind und Salome zunehmend belästigen, ja vergewaltigen, am Ende hat sie ein mit Blut getränktes Kleid an. Und sie ist nicht die einzige, die hier vergewaltigt wird, denn Herodes hat sich derweil mit der jungen Salome in ein Hinterzimmer verzogen, in dem es dann wohl heftig zuging, denn als die Schiebetür sich wieder öffnet, sind die Möbel umgestürzt.
Michieletto inszeniert mit dieser Salome ein Missbrauchsopfer – und eine durch den gewaltsamen Tod des Vaters traumatisierte junge Frau. An der Stelle, an der zuvor Jochanaan auf Salomes Wunsch hin aus der Zisterne, in der er gefangengehalten wird, emporsteigt, erhebt sich später der Grabstein von Salomes Vaters – Jochanaan als eine Art Vaterprojektion? Michielettos Inszenierung regt zu vielerlei Gedanken an. Jochanaans Kopf liegt am Ende auch nicht als blutiger Schädel auf dem silbernen Tablett, sondern erhebt sich in einem Strahlenkranz wie in dem Zyklus, den Gustave Moreau 1876 gemalt hat.
Ob freilich die fünf Todesengel mit den schwarzen Schwingen auf die Bühne kommen mussten und nahezu ständig Präsenz zeigen, nur weil Jochanaan davon spricht, er höre die Flügel des Todesengels durch den Palast rauschen, bleibe dahingestellt. Und auch die große glänzende schwarze Kugel, die sich herabsenkt und von Salome zum Schwingen gebracht wird, wirkt wie ein bedeutungsschwangeres Symbol, ohne dass sich deren Sinn erschlösse. Und warum Jochanaan mit behaarten Gliedmaßen wie ein Neandertaler auf die Bühne kommen muss, bleibt unerfindlich. Doch das wiegt gering bei einer durchdachten Inszenierung, in der auch die Figuren gut charakterisiert sind – der geile Herodes, den Gerhard Siegel mit klarem, schneidend scharfem Tenor grandios herausmeißelt; die Herodias, die Linda Watson als herrische Partylöwin mimt.