Einem Engländer könnte man verzeihen, wenn er annimmt, dass die Wurzeln der weltberühmten Wiener Sängerknaben so weit zurückreichen, dass die liturgische Musik von Johann Sebastian Bach fest in ihrem Repertoire verankert ist. Seit 1498 singen sie in der Wiener Hofkapelle Gottesdienste, und da muss Bach doch regelmäßig vorkommen? Nicht ganz. Dieser Glaube lässt die deutlichen Unterschiede zwischen dem evangelischen Leipzig und dem katholischen Wien außer Acht.
Dieser einzigartige Chor, der von keinem Geringeren als dem römisch-deutschen Kaiser Maximilian I. gegründet wurde, ist auf dem reichen, nährenden Boden der lateinischen Messe verankert, insbesondere mit Werken von Joseph Haydn und Franz Schubert – Komponisten, die in ihrer Jugend in diesem Chor gesungen haben. Ihre Werke stehen an den meisten Sonntagen auf dem Programm, begleitet von Mitgliedern der Wiener Philharmoniker, deren Tenöre und Bässe aus dem Chor der Wiener Staatsoper stammen. Das ist eine außergewöhnliche Besetzung für einen gewöhnlichen Sonntagmorgen und eine außergewöhnliche Erfahrung für die Chorknaben, von denen einige erst 10 Jahre alt sind.
Die Gelegenheit, diesen Chor bei seinem Besuch bei LuganoMusica im Februar mit einer Auswahl von Bachkantaten zu hören, ist also eine besondere. Natürlich ist es nicht so, dass die Knaben mit der Musik von Bach nicht vertraut wären. In der Tat hat der Chor in den 1960er und 1970er Jahren mehrere Aufnahmen mit Nikolaus Harnoncourt und Hans Gillesberger gemacht – ein Spiegelbild der Klangwelt, die Bach in Leipzig kannte, wobei die oberste Linie nicht von Sopranen, sondern von Knabensopranen gebildet wird. In Lugano werden die Knaben sowohl die Oberstimme als auch die Altstimme singen, begleitet von Tenören und Bässen und dem vokalen und instrumentalen Claudiana Ensemble. Das Ensemble, das sich auf Bach und Monteverdi spezialisiert hat, wird von dem in Lugano lebenden Lautenisten Luca Pianca geleitet, der bei Harnoncourt ausgebildet wurde und so eine schöne Verbindung besteht.
Bachs Vokalwerke sind Teil der umfassenden musikalischen Ausbildung des Chores, die in einem eigenen Campus in Wien stattfindet – eine Ausbildung, die so breit gefächert ist, dass sie von Motetten aus der Renaissance bis hin zu Songs aus Shows und Pop-Covern alles umfasst. Es ist ein langer Weg von den Tagen, als Maximilian I. seinen Hof nach Wien verlegte und die Hofmusikkapelle gründete, die direkte Vorläuferin der Wiener Sängerknaben. Caldara, Gluck, Salieri, Mozart und Bruckner schrieben für den Chor, der bis 1918, als Österreich im Zuge des Ersten Weltkriegs zur Republik wurde, ausschließlich für den Wiener Hof sang.
Eine, die den Chor am besten kennt, ist seine Archivarin und Dramaturgin Tina Breckwoldt. Sie hat ein Buch über die Geschichte, die Traditionen und die phänomenalen Tourneen des Chores geschrieben: bisher mehr als 1.000 Tourneen in 100 Ländern. „Der Chor ist seit 1926 unterwegs“, sagte sie und wies darauf hin, dass die Auftritte für die Finanzierung seiner Aktivitäten und seiner Ausbildung unerlässlich waren. Heute, rund 29.000 Konzerte später, besteht der Chor nicht mehr nur aus einem einzigen Klangkörper, sondern aus vier verschiedenen Chören, die jeweils aus einem Dutzend Jungen im Alter von 10 bis 14 Jahren bestehen.
Seit 2004 gibt es auch einen Mädchenchor, der - im Gegensatz zu den Knabenchören - überlaufen ist. „Ich wünschte, wir könnten mehr Jungen anziehen“, sagt Breckwoldt, „aber wir müssen bedenken, dass in Wien viele Menschen leben, die den Chor vielleicht noch nicht kennen und eine andere Gesangstradition haben.“
Es scheint ungewöhnlich, dass es für diese weltberühmte Institution eine Herausforderung ist, einheimische Talente zu gewinnen. Wie Breckwoldt betont, ist die Erfahrung von unschätzbarem Wert. „Die Tatsache, dass ein 10-Jähriger regelmäßig Gottesdienste mit Mitgliedern der Wiener Philharmoniker und des Staatsopernchors singen kann, ist außergewöhnlich. Sie sind vorher so gut ausgebildet, dass eine einzige Vollprobe mit dem Orchester ausreicht.“
Die Outreach-Programme sollen Jungen von außerhalb der Stadt anlocken, sich zu bewerben, und die Mitglieder kommen auch aus dem Ausland, wobei Jungen sogar aus Südkorea zum Vorsingen kommen. „Wir haben einen ziemlich spielerischen Ansatz für Vorspiele“, sagt Breckwoldt. „Im Idealfall kommen die Kinder zu uns, um unserer Grundschule beizutreten. Alles, was wir verlangen, ist, dass sie gerne singen, gerne Teil eines Teams sind und ein gutes Ohr und Rhythmusgefühl haben. Alle Jahrgangsstufen singen täglich und die Grundschule hat einen eigenen gemischten Chor, der regelmäßig auftritt, unter anderem beim jährlichen Weihnachtstee des Bundespräsidenten für Wohltätigkeitsorganisationen und Freiwillige.”