Eine gläserne Wand trennt den Bühnenraum vom Publikum. Das Geschehen auf der Bühne kann man zwar erkennen, aber zugleich spiegeln sich die Besucher in dieser Wand. Diese Iphigénie spielt nicht auf der fernen Barbareninsel Tauris, wo Menschenopfer zur Besänftigung der Götter an der Tagesordnung sind, und auch nicht in der Antike, sondern im Hier und Jetzt. Das zeigt sich, wenn die Glaswand sich hebt, als Interieur eines Seniorenheims mit Liegen zum Ausruhen, einer Fernsehecke und Duschen und Waschbecken in Reih und Glied an den Seitenwänden. Und die Bewohnerinnen wandeln auf und ab und warten darauf, dass es Zeit für Kaffee und Kuchen wird.
In Krzysztof Warlikowskis Inszenierung weilt Iphigénie nicht mehr auf der Insel Tauris, wohin sie von der Göttin Diana gebracht worden war, als ihr Vater sie den Göttern opfern wollte. In dieser Deutung ist das längst Vergangenheit für sie, eine Vergangenheit freilich, die sie nicht loslässt. Für diese Vermischung von Zeitebenen kann Warlikowski sich auf die Oper berufen. Wenn die Priesterinnen – grandios vom Stuttgarter Staatsopernchor verkörpert – die Götter anflehen, sie von ihrer Pflicht der Menschenopferung zu entbinden, erzählt Iphigénie von ihrem neuerlichen Traum, in dem sie an glückliche Kindheitszeiten erinnert wurde, in dem sie aber auch den Mord an ihrem Vater durch seine Frau und die Rächung dieser Tat durch ihren Bruder Oreste sieht – Begebenheiten, die sie gar nicht mehr erlebt hat, da sie bereits auf Tauris weilte. Warlikowski weitet diese Vermischung von Zeit- und Realitätsebenen noch aus, denn er verlegt Iphigénies Existenz als alte Frau in unsere Gegenwart, macht so aus dem auf das Atridengeschlecht beschränkte antike Drama ein Menschheitsdrama, das bis in die Gegenwart reicht.
Großartig gestaltet Amanda Majeski die Traumvisionen, die dadurch heraufbeschworenen Ängste und die Todessehnsucht, denn nur durch den Tod meint Iphigénie, diesen sie verfolgenden Träumen entkommen zu können – ähnlich wie ihr Bruder Oreste, den es auf die Insel verschlägt und der gleichfalls vom Fluch seiner Tat, des Muttermords, entrinnen will. Die Oper handelt vordergründig davon, wie Iphigénie sich dem Befehl des Inselkönigs Thoas, die Fremden zu opfern, widersetzt und so ihren Bruder rettet, in Wirklichkeit aber vom Schicksal, dass man der Vergangenheit und dem eigenen Tun nicht entkommen kann, dass man von dem verfolgt wird, was man getan hat. Gluck setzt das kompositorisch durch eine immer wiederkehrende Statuarik der Rhythmen um, die Stefano Montanari am Pult des Staatsorchesters unerbittlich realisiert, zugleich aber auch die großen Emotionen, die dieses Schicksal in den Figuren freisetzt, klangvoll und eindringlich gestaltet. Und diesen Emotionen bleiben die Sänger nichts schuldig – Jarrett Ott als Oreste nicht, der die Verzweiflung seiner seelischen Pein in seine Stimme legt, Elmar Gilbertsson als Pylade nicht, der seine Freundschaft mit Oreste mit metallisch glänzendem Tenor ausdrückt, der gleichwohl zu drängendem lyrischem Ausdruck fähig ist. Vor allem gelingt es Amanda Majeski, zwischen Nihilismus in den leisesten Tönen und Anklagen an das Schicksal im Forte alle Zwischennuancen zu singen und Dramatik aus dem Gesang heraus zu gestalten.