Von Boogie-Woogie und modernen Alltagsbesänftigungen bis zum Riss (Split) in der menschlichen Seele: Lucy Guerin wird zur Urheberin einer Phantasmagorie der zivilisatorischen und der archaischen Menschheitsgeschichte, die auf der Bühne des Théâtre des Abesses kondensiert. Split ist eine Zeitreise in zwei unterschiedliche Arten des Bewusstseins: in ein Ur-Bewusstsein und in eines der Taktung des modernen Lebens – gesplittet wird die menschliche Seele, versinnbildlicht durch einer rückwärts laufenden Fibonacci-Folge.
Ein erstes großes Rechteck wird in der Mitte aufgeteilt. Dessen Hälfte wird wieder geteilt, bis eine Idee von Unendlichkeit durch das weitere Dividieren suggeriert wird, die einer Visualisierung der Fibonacci-Folge entspricht. Der Raum wird also zunehmend kleiner und die Tänzerinnen müssen sich zeitweise aufeinander bewegen, um nicht die bedeutungsvolle Grenze zu überschreiten. Mit den zwei Modi des Bewusstseins werden auch zwei Zeitebenen skizziert: Die erste, im großen Raum, dauert anteilig am längsten und ist eine perfekte Synchronisation von Wiederholungen zum organischen Pulsieren einer Musik, die nur aus einem an- und abschwellenden Rhythmus besteht. Ausladend expressive Bewegungen, ein Schaukeln der Hüften und kleine Bewegungen werden in der Wiederholung des Rhythmus synchronisiert. Guerin kreiert damit eine sonderbare Welt, die eine Sogwirkung entfacht. Dann wird der erste, große Raum geteilt und die andere Zeitebene kommt zum Vorschein. Rituelle Handlungen, Bodenscharren, Wedeln mit den Händen, auch Alltagshandlungen sind erkennbar. Jedoch arbeiten die Tänzerinnen, Melanie Lane und Lilian Steiner, hier gegeneinander und reiben und drücken sich, wohingegen in der anderen Ebene ein Miteinander stattfindet, bei dem niemals die andere auch nur berührt wird. So spitzt sich abwechselnd der Ablauf zu, der Raum wird in dem Maße enger wie die Tänze in den kleineren Räumen auch kürzer werden, alles ist auf die teilende Struktur des Stückes abgestimmt.
In Dauerschleife läuft ein warmer, pulsierender Rhythmus, der sich nie verändert und alles, was innerhalb der Rechtecke passiert, strukturiert und immerwährend erscheinen lässt. Der alternierende Rhythmus gibt ebenso den Tänzerinnen den Rückhalt ihre Bewegungen zu koordinieren. Dabei fällt auf, dass sich Lilian Steiner und Melanie Lane von Beginn an in die Musik fallen lassen können. Die Vertrautheit mit den choreographierten Bewegungen scheint so groß, dass sie zu Triebfedern für eine Aktivierung des Zuschauers werden. Gebrochen, aber auf nicht störende Weise, wird dieses Treiben durch das Zergliedern des Raumes. Die Tänzerinnen kleben mit dem weißen Klebeband selbst den Boden ab, dabei werden sie zu privaten Personen. Das Faszinierende folgt: Sie begeben sich wieder in ihren Raum, die Musik schwillt an und man kann die Transformation in die Figur der Performance, diesen kurzen Kippmoment, förmlich spüren. Steiner und Lane holen den Zuschauer immer wieder ab, ihre Verlässlichkeit ist dabei wegweisend.