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Menschliche Schönheit und Perfektion: das Royal Philharmonic Orchestra zu Gast in München

Von , 05 Februar 2025

Wenn man Menschen KI-generierte Bilder von Gesichtern zeigt und sie bittet, ihre Favoriten zu benennen, so gewinnen am Ende immer die Bilder, welche minimale Unregelmäßigkeiten und Asymmetrien zeigen. Es ist also gerade nicht die maschinenhafte Perfektion, die wir als perfekt empfinden, sondern es ist und bleibt menschengemachte Schönheit, deren Ausdruck wir besonders in der Kunst erfahren.

Vasily Petrenko
© Ben Wright

Der Konzertabend am 4. Februar 2025 in der Münchener Isarphilharmonie war mit einem Wort „perfekt“. Das Royal Philharmonic Orchestra gab unter Vasily Petrenko ein Symphoniekonzert im besten Wortsinne. Das Programm stellte nämlich unterschiedliche Konzepte großer Symphonik gegenüber, indem zunächst Modest Mussorgskys Eine Nacht auf dem kahlen Berge, dann Tschaikowskys Violinkonzert in D-Dur, Op.35 mit der Solistin Julia Fischer und nach der Pause Johannes Brahms‘ Symphonie Nr. 1 c-moll, Op.68 interpretiert wurden.

Mussorgsky (1839-1881) schloss sich schon früh in seiner Karriere der „Gruppe der Fünf“ an, zu denen auch Balakirev, Cui, Borodin und Rimsky-Korsakow gehörten. Diese Komponisten, die sich auch als „Neutöner“ bezeichneten, schöpften ihre Werke aus Elementen russischer Kirchen- und Volksmusik und flochten diese Elemente auf neuartige Weise in ihren eigenen unverwechselbaren Stil ein. Die Tondichtung Eine Nacht auf dem kahlen Berge stellt mit allen symphonischen Mitteln eindrücklich eine Johannisnacht dar, in der sich zunächst Hexen und Zauberer auf dem kahlen Berge einfinden, um Satan ekstatisch zu verehren. Ohne Umschweife werden dem Orchester von Beginn Höchstleistungen abverlangt: Die Geigen starten mit schnellen Läufen in den hohen Registern, in das die Holzbläser aufstachelnde Skalenfragmente werfen. Höchste Präzision ist gefragt – und die lieferte das Royal Philharmonic Orchestra ein ums andere Mal. Neben klanglicher Perfektion und Ausdrucksstärke gelangen den Musikern an diesem Abend auch die vertracktesten Herausforderungen, die für jedes Orchester stets einem Glücksspiel gleichkommen. Als da wären unverfranste punktgenaue Einsätze der Bläsergruppen, gemeinsam ausgeführte Pizzicati selbst innerhalb eines Accelerando oder Rallentando, Hornsoli ohne Kieksen und ein homogener, ausgewogener und dabei höchst transparenter Zusammenklang, eine perfekte Sym-Phonie eben.

Julia Fischer
© Uwe Arens

Julia Fischer brillierte als Solistin in Tschaikowskys Violinkonzert. Dachte man noch beim letzten Konzert, es ginge nicht mehr besser, so entwickelt sie ihre Ausdrucksstärke immer weiter und treibt neue musikalische Blüten von berauschender Schönheit. Ja, es gab hie und da minimale intonatorische Trübungen in den Oktavläufen im dritten Satz und in einigen wenigen halsbrecherischen Läufen und Akkordbrechungen. Aber man sah es Fischer an, dass sie das überhaupt nicht interessierte. Sie wollte große Kunst schaffen und alles an Ausdruck und Schönheit aus ihrer Guadagnini saugen, was möglich war, ohne Rücksicht auf maschinelle Perfektion.

Fischer stand nicht über dem Notentext, den der große Virtuose Leopold Auer, dem das Konzert gewidmet war, als unspielbar tituliert hatte. Nein, sie schwebte über der Partitur. Wie sie ein ums andere Mal ihr Kinn vom Kinnhalter nahm und mit frei erhobenem Haupte dem Dirigenten Vasily Petrenko oder Musikern des Orchesters mit einem feinen Lächeln Impulse schickte, während ihre Finger wie von selbst spielten, das war so unerhört souverän, dass einem die Worte fehlen. Als sie dem Publikum ihrer Heimatstadt als Zugabe die Sarabande aus der d-moll-Partita spielte, da wurde auch offenbar, wie versatil sie ihr Vibrato einsetzt.

Nach der Pause zeigte Petrenko sein ganzes Können. Mit eleganten und feingliedrigen Bewegungen entlockte er dem maximal besetzten RPO eine großartige Interpretation der Ersten Symphonie von Brahms. Brahms, der davon sprach, den mächtigen Symphoniker Beethoven „stets als Riesen hinter sich marschieren zu hören“, hatte mit diesem Werk seinen eigenen symphonischen Stil erschaffen, der gänzlich ohne Effekthascherei mit eng gesetztem Kontrapunkt und rhythmischen Verschränkungen eine musikalische Dichte erzeugt, die wie musikalische Mandelbrot-Fraktale immer noch weitere Ebenen der symphonischen Komplexität entbergen. Die Musiker offenbarten diese Schönheit im Gesamtklang, aber auch in vollendet gestalteten Solopassagen der Klarinette, der Querflöte und der Blechbläser, die warm und rund die Choralpassage zu Beginn des vierten Satzes verströmten, bevor dann die Hörner ihre herrlichen Soli präsentierten. Sodann stimmten die Streicher das hymnenartige Hauptthema an und brachten die Isarphilharmonie zum Erleuchten. Das Münchener Publikum entließ die Londoner Musiker erst nach zwei Zugaben in die glasklare Winternacht.

*****
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“Julia Fischer schwebte über der Partitur”
Rezensierte Veranstaltung: Isarphilharmonie, München, am 4 Februar 2025
Mussorgsky, Nacht auf dem kahlen Berge
Tschaikowsky, Violinkonzert in D-Dur, Op.35
Brahms, Symphonie Nr. 1 in c-Moll, Op.68
Julia Fischer, Violine
Vasily Petrenko, Musikalische Leitung
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