Gegen Ende des Finales von Le nozze di Figaro, wenn im nächtlichen Park alles im Dunkel umherschwirrt – die einen auf der Suche nach einem verbotenen Stelldichein, die anderen als heimliche Belauscher –, hält Mozart buchstäblich die Zeit an: Der Graf bittet seine Gemahlin für sein amouröses Betragen um Verzeihung, und alle stimmen in eine Art Vergebungschoral ein. Doch dass hier wirklich Vergebung herrscht, dass alle zufrieden – „tutti contenti“ – seien, ist so, wie Mozart das komponiert, kaum zu glauben. Es ist eine Utopie in Tönen.
An der Staatsoper Hannover stellt Regisseurin Lydia Steier diese Szene an den Anfang der Oper, und Giulio Cilona lässt das Niedersächsische Staatsorchester in einer himmlischen Langsamkeit diesen feierlichen Choral spielen, wie es der unwirklichen Situation entspricht, ehe er dann mit aufrührerischem Tempo die Ouvertüre intonieren lässt, einem Tempo, das das Revolutionäre dieser Oper perfekt ausdrückt.
Und Lydia Steier setzt das ebenso unwirklich in Szene. Wie Figuren in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett stehen sie paarweise am vorderen Bühnenrand, und nur Susanna und Figaro sehen sich dabei in die Augen, verliebt, als Hochzeitspaar.
Während der Ouvertüre hat sich der Vorhang vor der Figurengruppe gesenkt, nur Susanna ist übrig, balanciert auf einer Balustrade zwischen Orchester und Publikum, wie sie überhaupt fast ständig auf der Bühne präsent ist – mal die anderen beobachtet, mal mimisch kommentiert. So macht Steier deutlich, wer in dieser Oper die eigentliche Hauptfigur ist, die ja eigentlich „Susannas Hochzeit“ heißen müsste.
Es ist eine Inszenierung, in der alle Details durchdacht und in sich stimmig sind. So verweist eine schwangere Dienstmagd im 1. Akt darauf, welches Schicksal Susanna drohen könnte, wenn es dem Grafen gelänge, sein feudales Recht auf die erste Nacht mit einer Braut in seinem Schloss durchzusetzen. Dass hier fast jeder vor allem Sex im Sinn hat, machen die deutlichen einschlägigen bis anzüglichen Gesten unübersehbar, vor allem bei Cherubino, den Nina van Essen ganz der Rolle entsprechend histrionisch mimt und dabei mit einem herrlich weichen Mezzosopran überzeugt.
Die Inszenierung ist psychologisch durchdacht und ungemein schlüssig. Während der Graf am liebsten mit jeder Frauensperson ins Bett gehen würde, allen voran Susanna, kommt seine Frau gar nicht mehr aus dem Bett heraus, schwankt in ihrer Depression ob der verlorenen Liebe ihres Mannes zwischen Atemmaske und Alkohol hin und her. Bei seiner aggressiven Arie im 1. Akt („Se vuol ballare Signor Contino“) reißt Figaro voller Wut einer Kleiderpuppe den Kopf ab, Vorwegnahme der Enthauptung des französischen Königs durch die französischen Revolutionäre, denn auch soziologisch ist die Inszenierung ungemein klarsichtig. Die Figuren sind allesamt überschminkt, als hätte der Satiriker William Hogarth ein Gemälde des Rokokomalers Fragonard bearbeitet, nur Susanna und Figaro sind frei von solcher Schminktünche, sie sind die einzigen „normalen“ Menschen in dieser Gesellschaft, in der die übrigen nichts als Speichellecker des Grafen sind. Und diese Gesellschaft ist am Ende. Momme Hinrichs macht das in seinem Bühnenbild deutlich. Die Tapeten im Schloss sind fleckig und rissig. Aber die neue Welt ist noch im Aufbau, das Zimmer von Figaro und Susanna ist voller Möbelversatzstücke – eine Welt des Übergangs, man weiß nur noch nicht, in welche Richtung sie sich bewegen wird. Entsprechend ist Figaro charakterisiert: Er will aufbegehren, ist sich nur nicht sicher, wogegen genau.