Der deutsche Theaterregisseur Frank Castorf stieß mit seiner radikalen Fassung von Wagners Ring-Zyklus 2013 in Bayreuth zum ersten Mal mit dem Opernbewusstsein zusammen, einer Produktion, die in den vier Jahren seit ihrer Premiere von einer verachteten Inszenierung zum gelobten Klassiker geworden ist. Wenn die Oper Stuttgart auf mehr davon gehofft hat, als sie ihn mit der Regie ihrer neuen Produktion von Gounods Faust beauftragte – die erste in Stuttgart in über 60 Jahren – so hat sie das bekommen. Alle typischen Merkmale einer Castorf-Inszenierung, wie man sie aus jenem Bayreuther Ring kennt, sind vorhanden: der düstere Realismus, das Auge fürs Detail und das Versammeln von Einflüssen, Themen und Anspielungen in ein „post-dramatisches“ Wirrwarr von visueller Stimulation.
Auch das Design-Team ist das gleiche, und Alexander Denić hat für Castorfs Drama, angesiedelt im Paris der 1960er um die Zeit des algerischen Unabhängigkeitskrieges, ein weiteres rotierendes Wunderwerk eines dreidimensionalen Bühnenbilds geschaffen – die Verkapselung der französischen Hauptstadt von der Metro-Station Stalingrad und den Türmen und Wasserspeiern von Notre Dame bis hin zu einem Straßencafé und der heruntergekommenen Metzgerei darüber, in der Marguerite ihre Bleibe hat. Es ist sowohl geistreich als auch voller Witz und Selbstbezüge – ein Filmposter für The Horror Chamber of Dr Faustus (Das Schreckenshaus des Dr. Rasanoff) schmückt eine Wand, eine andere, vielleicht um Castorfs Siegfried-Bewunderer zu erfreuen, eine Werbeanzeige mit einem Krokodil mit geöffnetem Maul.
Méphistophélès „verkauft“ Faust die Idee der Marguerite mit ihrem Titelbild auf Paris Match und gewinnt sie dann für Fausts Sache mit Schmuck, dem Stichwort für zahlreiche Handelsreferenzen in der Inszenierung. Coca-Cola-Poster und -Symbole gibt es im Überfluss und das Liebesduett im dritten Akt wird begleitet von historischer, gefilmter Werbung für Omo, Gibbs Zahnpasta und dergleichen, um die Häuslichkeit und die Verbraucherbewegung der Zeit zu betonen. Paris als Weltführer des Konsums, ebenso wie die Brutstätte für politischen Radikalismus und Revolution. Paris, weil Gounods eine durch und durch französische Lesart von Goethes teutonischem Klassiker ist, mit seiner Liebe zu Schauergeschichten und alledem.
In dieser Welt ist Méphistophélès ein Schamane, Besitzer eines kleinen Raritätenladens, und Voodoo-Bilder kommen im Lauf des Abends immer wieder zum Vorschein, von Puppen über Masken zu Kopfbedeckungen. Gretchen ist ein Sternchen, das vielleicht eher seine Beine im Kreise der Grisetten ein einer Montmartre-Spelunke dreht als Garn am Spinnrad. Valentin und Wagner sind in der Armee im Kampf gegen die Algerier und Siébel, geschrieben als Hosenrolle, ist eine junge Frau, die für Marguerite brennt. Faust selbst ist eine Art Jedermann wie Gounod ihn zeichnet; er sehnt sich mehr nach seiner verlorenen Jugend und Liebe als nach Wissen.