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Tristan und Isolde in Berlin - erschütternd und beinahe unterträglich intensiv

Von , 13 Oktober 2014

Tristan und Isolde ist ein unmögliches Werk, für Intendanten, Sänger und Publikum gleichermaßen. Intendanten stehen vor der Herausforderung, eine Handlung auf die Bühne zu bringen, die sich viel mehr mit innerer, psychologischer Entwicklung und abstruser Metaphysik beschäftigt als mit handlungszentriertem Drama. Die beiden Protagonisten müssen über die vollen fünf Stunden Aufführungsdauer mit unmenschlicher Lautstärke und in unmenschlicher Lage singen. Der Zuhörer wird mit einem Werk konfrontiert, dessen Fülle an Erfindungsreichtung unmöglich mit nur einem Mal hören erfasst werden kann – ein ganzes Leben reicht dafür nicht aus. Und doch kam die Vorstellung an der Berliner Staatsoper am Samstag dem Ziel sehr nahe, ein unmögliches Ideal zu funktionierender Realität zu machen. Die Kombination von Harry Kupfers brillanter Inszenierung, die schauspielerische und gesangliche Leistung der beiden für ihre Wagner-Darbietungen bekannten Sänger Waltraud Meier und Peter Seiffert, unterstützt von einem makellosen Ensemble, und Daniel Barenboims flexibler und emotional überzeugender Leitung verschaffte uns ein emotional erschütterndes Erlebnis. Sehr lebhaft erinnerte es an Wagners Kommentar während der Komposition, dass „vollständig gute [Vorstellungen] die Leute verrückt machen“ müssen. Nie zuvor habe ich etwas von vergleichbarer Intensität im Theater erlebt.

Diese Produktion, Kupfers dritte Version dieser Oper, war grandios in ihrer Einfachheit. Die Bühne wurde von der riesigen Statue eines gefallenen Engels dominiert, der sich mit ausgebreiteten Flügeln niedergeworfen hatte, das Gesicht in den Händen vergraben (dieses Bild hat seinen Ursprung im Jahr 2000, lange bevor Doctor Who es so furchteinflößend gemacht hat). Auf einer Drehbühne platziert, diente es in verschiedenen Perspektiven auch als Schiff, als Liebesnest und als felsige Burg Kareol. Während Brangänes ausgedehntem Warnruf drehte es sich unendlich langsam, als betrachtete man die Rotation der Erde. Geschickt genutzt wurde die Beleuchtung: Tristans wahnhafte Phantasie vor Isoldes Ankunft im zweiten Akt beispielsweise wurde sehr farbig ausgeleuchtet, bevor das Licht nach seinem Tod zum Monochrom verblasste. Die Rückwand wechselte ensprechend der dramatischen Anforderungen zwischen schwarz und weiß.

Waltraud Meiers Stimme ist nicht mehr das prächtige Instrument, das es einst war: sie hat sich nicht einmal an den hohen Cs im zweiten Akt versucht, und im piano ist ihr Timbre in der tiefen Lage nicht homogen (einige Klangveränderungen ließen in „Mir erkoren“ im ersten Akt und zu Beginn des Liebestods einige Töne merkwürdig hervorstechen). Trotzdem besaß ihr Portrait der Isolde eine gewisse Erhabenheit, die absolut überzeugend war. Sie war faszinierend in der letzten Szene in Akt I, spie das Wort „Knecht“ geradezu aus, und dennoch gelang ihr der Übergang von der rachedurstigen Figur zur Geliebten großartig. Lob gebührt hier jedoch nicht nur den Sängern, sondern auch der Bühnendirektion. Wo Wagner für zweieinhalb Minuten Orchestermusik eine ausgeklügelte Gesten-Pantomime choreographierte, in der den Charakteren bewusst wird, dass sie kein Gift geschluckt haben, saßen Meier und Seiffert einfach nebeneinander und ließen die Musik ihre emotionale Reise malen. Kurz vor ihrem nächsten, zögernden Aufgang mit „Tristan!“ „Isolde!“ berührten sich ihre Handrücken, ihre Finger verschränkten sich ineinander: eine Geste, die in ihrer Intimität und Untertreibung vollkommen war. Sogar das wilde Umhertollen der beiden beinahe Sechzigjährigen kurz danach brach ihren Zauber nicht.

Seiffert war im ersten Akt gesanglich hervorragend, zu Ende des Duetts jedoch sichtlich erschöpft, was einige Intonationsprobleme mit sich brachte. Im dritten Akt jedoch war er wieder in Topform, und die Momente der doch verständlichen Anstrengung schienen nun durchaus passend zum verwundeten, halluzinierenden Tristan. Körperlich erinnerte er stark an Philip Seymour Hoffman und zeigte auch in seiner Fähigkeit Ähnlichkeit zu ihm, einen Charakter durch kleinste Bewegungen zu formen.

Jeder der anderen Charaktere gab seiner Rolle etwas Besonderes. Ekaterina Gubanovas Brangäne war stimmlich hinreißend, Roman Trekel gab einen starken Kurwenal. Das Juwel der Besetzung war Stephen Milling, dessen Gestaltung von Markes Monolog absolut fesselnd war. Er war so gut, dass sein kurzer Auftritt am Ende des dritten Aktes beinahe den Fokus, der auf den Liebenden lag, verschob, besonders deshalb, weil diese Produktion einen homosexuellen Subtext in Markes Beziehung zu seinem Neffen (ebenso in der Kurwenal-Tristan-Beziehung) hervorhob. In der Tat lag der König am Ende der Oper neben dem toten Tristan, als Isolde ihren Liebestod ins Rampenlicht sprach.

Meine hohen Erwartungen an die Staatskapelle wurden mehr als erfüllt – ihre dynamischen Nuancen im Vorspiel des dritten Aktes allein waren schon den Eintritt wert. Barenboim nahm viel Rücksicht auf die Bedürfnisse der Sänger, und es gab nur wenige Momente, in denen die ganze instrumentale Gewalt die Stimmen auch nur ein klein wenig übertönte. Unter seiner Leitung war die Passage im Liebesduett vor „Lausch, Geliebter“ ein intimes Geheimnis, beinahe zu kostbar für diese Welt. Am anderen Ende des Spektrums gab er der Einleitung zur letzten Szene des ersten Aktes profundes Gewicht. Diese Szene war für mich eindeutig der Höhepunkt des Abends, in der alle Faktoren zusammenkamen und einen seltenen Moment überirdischer Schönheit schufen. Ich habe geweint und werde ihn nie vergessen.

Aus dem Englischen übertragen von Hedy Mühleck

*****
Über unsere Stern-Bewertung
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Rezensierte Veranstaltung: Schillertheater: Großer Saal, Berlin, am 11 Oktober 2014
Wagner, Tristan und Isolde
Staatsoper Berlin
Daniel Barenboim, Musikalische Leitung
Harry Kupfer, Regie
Hans Schavernoch, Bühnenbild
Buki Shiff, Kostüme
Peter Seiffert, Tristan
Waltraud Meier, Isolde
Stephen Milling, König Marke
Ekaterina Gubanova, Brangäne
Roman Trekel, Kurwenal
Staatskapelle Berlin
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