Vierzig Opernstoffe soll Claude Debussy durchgesehen haben, bevor er sich um 1900 für eine Geschichte entschied: sein Drame lyrique basiert auf der textlichen Adaption des Schauspiels Pelléas et Mélisande des belgischen Autors Maurice Maeterlinck. Richard Wagners Parsifal hatte gerade in der Musikwelt für Aufsehen gesorgt, der Gedanke der „unendlichen Melodie“ faszinierte auch Debussy. Doch an Stelle der hoch entwickelten Leitmotivtechnik, die musikalisch die Handlung ergänzte, wollte Debussy die Bedeutung des Worts nicht reduzieren, nicht zulassen, dass seine Musik „wegen technischer Erfordernisse den Lauf der Gefühle und Leidenschaften der Personen übereilt und hemmt.“ Keine Überbindungen mehr und keine Koloraturen, jede Silbe ist ein Ton; anstrengend für die Sänger, die viel Text lernen müssen.
Debussys einzige Oper ist ein Liebesdrama zwischen zwei Halbbrüdern und einem aus geheimnisvoller Vergangenheit aufgetauchten Mädchen. Prinz Golaud hat die rätselhafte Mélisande geheiratet, beobachtet die wachsende Zuneigung zwischen ihr und Pelléas. Zunächst bittet er nur, etwas zurückhaltender zu sein; doch dann kommt es zum Eifersuchtsdrama: ein tödliches Dreieck in einem komplizierten Familiensystem.
Die niederländische Regisseurin Jetske Mijnssen arbeitet erstmals an der Bayerischen Staatsoper. Sie verlegt die mittelalterliche Handlung in eine Bourgeois-Welt um die Jahrhundertwende, macht offensichtlich, was es bedeutet, im eigenen Leben eingesperrt zu sein. Keiner der Figuren ist böse, alle wollen eigentlich, dass die Familie funktioniert, trotzdem scheitern alle. Und Mélisande steht zerrissen zwischen den beiden Brüdern. Der Großvater Arkel sagt am Ende des Stückes über die Rätselfrau: „Sie war ein armes, mysteriöses Wesen – wie wir alle.“
Mijnssen stellt diese Lebenssumme als Motto in großen Lettern über den fünften Akt. Für eine karge Bühnenmöblierung mit einigen klassischen Ledersesseln auf Fischgrätparkett entschied sich Bühnenbildner Ben Baur; die oft existierende Wald-Umgebung ist bis auf einen kleinen Wasserlauf ausgeblendet. Das bleibt auf Dauer eintönig; einige Momente stimmen in Wort und Bild nicht zusammen. Ein Lichtrahmen hält die Handlung wie auf einem Gemälde zusammen. Den Beginn, wenn Golaud Mélisande kennenlernt, von der Waldlichtung in eine Ballszene zu verlegen, ist eine ansprechende Idee. Ebenso, dass Mélisandes Krönlein dabei von einer anderen Tänzerin entführt wird. Sehr poetisch gelingt auch die aufkeimende Liebesbeziehung, wenn Pelléas Mélisande vor der Staffelei porträtiert.
Eine der Höhepunkte mit Golaud und Sohn Yniold im dritten Akt, wenn der Junge mühevoll und doch geschickt während des Schachspiels dem Fragespiel des Vaters ausweicht und beide auf Tisch und Stuhl klettern, um einen Blick in Mélisandes Schlafgemach zu erhaschen. Ebenso nach dem Eklat Yniolds Lied und Spiel (wunderbar Henrik Brandstetter, Tölzer Knabenchor) mit den Holzschafen, in denen er das Erlebte figürlich zu verarbeiten sucht.
Andererseits fällt Pelléas' Spiel mit Mélisandes Haaren, deren Länge bis ins Wasser reichen soll, eher sparsam aus. Dass Mélisande ihre Liebesszene mit Pelléas im Turmzimmer beginnt, obwohl Golaud im Bett neben ihr liegt, erscheint unglaubwürdig. Die entscheidende Szene mit Golaud, in der er Mélisandes Haare zerzaust, geriet in Jens-Daniel Herzogs fast gleichzeitiger Inszenierung in Nürnberg deutlich eindrücklicher, ja brutaler: wenn Golaud sie am Boden wie ein Tier an den Haaren durch das Haus zerrt, anschließend der Rest der Familie das Diner ungerührt fortsetzt. War die Bebilderung in den ersten drei Akten eher wasserscheu, wird der kleine Wasserkanal im fünften Akt geradezu multipliziert; die Sänger klettern sichtlich mühevoll über Balken und Bachläufe.