Es sind geradezu Benjamin Britten-Festtage an der Bayerischen Staatsoper, und wenn nicht derzeit permanent erschreckende Nachrichten aus dem Konflikt in der Ukraine über die Ticker laufen würden, könnte man in solch seltene Feiertage umso konzentrierter eintauchen. Am Vorabend bereits die Premiere von Brittens Oper Peter Grimes, nun das Akademiekonzert, in dem Britten breiten Raum einnimmt. Unwillkürlich drängen sich Parallelen auf, dass Brittens Sinfonia da Requiem, seine Illuminations und Peter Grimes zwischen 1940 und 1945 uraufgeführt wurden – Kriegszeiten auch damals!

Vladimir Jurowski dirigiert das Bayerische Staatsorchester © Wilfried Hösl
Vladimir Jurowski dirigiert das Bayerische Staatsorchester
© Wilfried Hösl

Als Zeichen der Solidarität mit der Ukraine hatte die Staatsoper das Akademiekonzert unter den Titel „Plädoyer für den Frieden“ gestellt. Vladimir Jurowski, in Moskau geborener GMD des Orchesters, eröffnete den Abend mit der Nationalhymne der Ukraine, die auf einem 1862 verfassten patriotischen Gedicht des ukrainischen Ethnographen und Dichters Pawlo Tschubynskyj wurzelt. In einer emotionalen Ansprache betonte Jurowski, dass er von beiden, russischen wie ukrainischen Kulturkreisen geprägt worden sei und den Überfall auf die Ukraine auf das Schärfste verurteile.

Obwohl bereits vor Monaten festgelegt, hatte in der Programmfolge bereits das erste Werk des Abends viel gemeinsam mit der aktuellen Stimmung: Benjamin Britten schrieb seine Sinfonia da Requiem 1940 als orchestrale Totenmesse im Gedenken an seine verstorbenen Eltern, denen das Stück gewidmet ist, aber auch als musikalisches Statement des überzeugten Pazifisten gegen den Krieg. Harte Paukenschläge am Beginn bauten sofort ein Gefühl von Bedrohung auf; mit einem langsam wiegenden Lamento-Motiv stimmten die Violoncelli ein, Bläser griffen die Melodie auf, die schließlich von den Streichern intensiv, wie eine Klageformel, repetiert wurde. Auch ohne Text erinnerte diese Musik im Lacrymosa an ein Gebet. Im Zentrum des Werks dann ein Dies Irae, das Britten nach eigenen Worten als eine Art Totentanz angelegt hat, dem die Blechbläser in messerscharfer rhythmischer Präzision grelle Leuchtkraft verliehen. Pizzicati der Streicher, Harfen, weiche Bläserfarben und Instrumentalsoli ließen im finalen Requiem zarte Hoffnung auf Trost und Frieden aufkommen.

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Sabine Devieilhe
© Wilfried Hösl

Für seinen Liederzyklus Les Illuminations wählte der junge Britten zehn Gedichte von Arthur Rimbaud aus. 1886 veröffentlicht sind die Texte weniger inhaltlich verbunden; vielmehr stellt der französische Dichter klangsinnliche Wortmalerei in den Vordergrund. Damit hielt Britten sie wie geschaffen für eine expressive Vertonung für hohe Singstimme und Streichorchester; einen Großteil der musikalischen Verantwortung konnte er der von ihm so geschätzten Singstimme übertragen. Mit größtmöglicher Sensibilität und unangestrengtem Sprachduktus stand die französische Sopranistin Sabine Devieilhe im Zentrum der Streichergruppe; sehr akzentuiert stellte sie Rimbauds Kernsatz „Ich allein habe den Schlüssel zu diesem wilden Possenspiel“ an den Anfang, eingebettet in die krasse Gegenüberstellung von Streicherakkorden gegensätzlicher Tonarten; in verschieden schattierten Deutungen kam diese Botschaft noch zwei weitere Male im Zyklus zu Wort. Mit mühelos strahlender Höhe beschrieb sie in Villes ein Stadtleben, vielleicht von flimmernd quirligen wie chaotischen Szenen in London angeregt. Hohe Streichertöne in Phrase schienen zwischen Glockentürmen und Sternen tönerne Girlanden zu spannen. In Antique mit seiner lyrischen Triolenseligkeit tritt Pans anmutig mit Blumen bekränzter Sohn auf; hier berührte Devieilhe mit zarten wie zerbrechlichen Tönen, auch dem reichen Schatz tiefer Lagen in ihrer Stimme. Zwischen pompös und satirisch sprang die Stimmungsvielfalt ihrer Königin in Royauté. Aufgewühlt agierte sie in Marine: schäumende Wellen der See, das Schlagen stählerner Buge sind zu hören, massiv, virtuos, ein Themenkreis aus Brittens innerstem Empfinden. Leidenschaftlich dann das orchestrale Interlude, gespielt von Solo-Viola und Solo-Violoncello, in das Devieilhe wieder herrlich Rimbauds Schlüsseltext einspann. Und dann „genug gesehen“ und „Aufbruch in neuer Liebe und neuem Lärm“: edle Miniaturen, für die alle Musizierende reichen Beifall bekamen.

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Vladimir Jurowski
© Wilfried Hösl

Von der französischen Lyrik Rimbauds in Brittens einfühlsamer Intonation war es nur ein kleiner Schritt zu genuin französischer Symphonik: Die Orchester-Zwischenspiele aus Claude Debussys einziger Oper Pelléas et Mélisande sind bereits mehrfach orchestral zusammengefasst worden. Vladimir Jurowski hatte Erich Leinsdorfs Suite ausgewählt, die noch von Claudio Abbado um weitere Episoden ergänzt worden war. Die Herausforderung, den Farbenreichtum der Vokalstimmen auf die Instrumente zu übertragen, gelang beeindruckend in diesem Tonpoem. Jurowski formte eine weite Palette von Assoziationen, vom inneren Erleben, das sehr leise und introvertiert völlig neue Ausdrucksbereiche eröffnete, bis zu ekstatischen Augenblicken, wo diese ungreifbare Musik tatsächlich den Tonfall traditioneller Opernaffekte aufnahm.

Es sollte eigentlich eine Hommage an den Walzer werden: doch angesichts der Verwerfungen des Ersten Weltkriegs, der gerade Habsburgerisches Kaisertum und rauschende walzerselige Bälle des Adels hinweggerissen hatte, ließ Maurice Ravel eine Apotheose in La Valse zu, diesen schauerlich-wehmütigen Abgesang auf die alte Welt: tänzerisch anschmiegende warme Klangfarben, wie aus aufblühender Erinnerung, verhüllt Ravel harmonisch verfremdet und rhythmisch verzerrt in geisterhaften Nebel. Grandios gelungen in Tempowahl und instrumentaler Brillanz: Jurowski zündete mit dem wie im Rausch aufspielenden Staatsorchester soghaften Taumel bis zum raffiniert orgiastischen Schlussakkord. Glamourös und voller Faszination!

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