Andris Nelsons hat einen guten Draht zu den Wiener Philharmonikern. 2020 führte er mit dem Orchester im Zyklus alle neun Beethoven-Symphonien auf und leitete im selben Jahr das Neujahrskonzert. Auch bei seinem jüngsten Berliner Gastauftritt mit dem Orchester war zu bemerken, wie gut sich die Philharmoniker mit dem Dirigenten verstehen.
Eröffnet wurde der Abend mit Sofia Gubaidulinas Märchenpoem von 1971. Zu Beginn kratzten die Musiker mehr ihre Instrumente als dass sie auf ihnen musizierten; schließlich verebbte alles in einem Marsch. Ein feiner Zauber entfaltete sich im Klavier und dem Melodieschlagzeug bevor es dem Orchester gelang, hörbar zu machen, wie die träumende Kreide sich ins Nichts auflöst.
Dmitrij Schostakowitsch hatte sich 1955 nach einem Konzert begeistert über die „glänzende Orchesterkultur“ der Wiener Philharmoniker geäußert. Davon hat das Orchester bis heute nichts eingebüßt und so dürfte ihm auch dessen Aufführung seiner Neunten Symphonie gefallen haben. Ihr großer Wert lag für mich auch darin, dass Nelsons den zweiten Satz, nicht dem vom Komponisten grundsätzlich gewollten Zirkus der drei schnellen Sätze untergeordnet und so zu einem Intermezzo herabgestuft hatte, sondern dem Satz sein ihm zustehendes Gewicht gab. Die hervorragenden Bläser trugen ihre tonartlich gebrochenen, klagenden Melodien mit einer im Ton Mussorgskis Liedern nahestehenden Trauer vor und der Danse macabre schleppte sich auch dann, als er am Ende nach Dur aufgehellt wurde, nur mühsam voran. Höhepunkt aber war der vierte Satz. Die Blechbläser schienen eine der großen Passacaglien Schostakowitschs anzustimmen. Doch Sophie Dervaux ließ im Fagott ein „O Freunde, nicht diese Töne“ anklingen, auf die der inszenierte Jubel im Finale dann im Einklang mit Schostakowitsch als von oben diktiert und dem Volk aufgezwungen zu Gehör kam.