Viotti und München! Hier gehörte Vater Marcello lange zu den beliebtesten Dirigenten, leitete im Nationaltheater bis 2005 vor allem italienische Opern, formte als langjähriger Chefdirigent das Rundfunkorchester zum international beachteten Klangkörper. Dort brach er bei Proben zur konzertanten Aufführung von Massenets Manon nach einem Schlaganfall zusammen und verstarb wenig später. Dass nun sein Sohn Lorenzo das Akademiekonzert des Bayerischen Staatsorchesters im Nationaltheater leitete, führte bereits beim ersten Erscheinen vor dem Orchester zu begeisterndem Begrüßungsbeifall. Die musikalische Familientradition führt auch seine Schwester Milena weiter, als Hornistin im Staatsorchester ebenfalls auf der Bühne präsent.
Nicht erst seit dem Gewinn des Salzburg Festival Young Conductors Award 2015 ist Lorenzo Viotti auf den Orchesterpodien Europas gefragt, hat in München bereits bei den Philharmonikern gastiert und fesselte mit dem Rundfunkorchester in Poulenc und Messiaen – in der Konzertreihe „Paradisi Gloria“, die sein Vater schuf. Am Pult des BSO im bestens besuchten Akademiekonzert debütierte er mit Schnittke und Schostakowitsch, deren idiomatische Nähe im Konzert faszinierend offensichtlich wurde.
1985 schrieb Alfred Schnittke sein Erstes Violakonzert, eines der schönsten der kurzen Literaturliste nach Hoffmeister, Berlioz oder Hindemith. Schnittke verrät den Widmungsträger gleich zu Anfang in den Noten: Juri Baschmet war vom russischen Kultrocker zum Bratschenstar avanciert; die anagrammierten Noten in seinem Nachnamen eröffnen das Konzert, das vom Solisten schwindelerregende artistische Fähigkeiten verlangt. Das BSO kann sich glücklich schätzen, mit Adrian Mustea über einen imponierenden Solobratscher zu verfügen, der mit phänomenaler Phrasierung von nüchterner Sorgfalt bis emotionaler Eindringlichkeit die Herausforderung in Schnittkes Opus annahm: wie aus dem Nichts bahnte er den Motivfetzen der Bratschenmelodie ihren Weg in die Wirklichkeit, von dicht gestaffelten tiefen Streichern sonor grundiert. Bald steigerte sich das Orchester, mit stimmgewaltiger Holz- und Blechbläserfraktion, virtuosem Schlagwerkteam und vergleichsweise reduzierter Streichergruppe, in massive dunkle Texturen, über die Mustea sich mit der Bratsche in hohen Lagen Bahn brach wie durch Dickicht, wo harmonische Glücksmomente wie aus süßlicher Verzauberung ins Taumeln einer Verfremdung sich schmerzhaft reibender Viertelton-Sprünge gerieten. Da glänzte immer wieder das Trillermotiv aus Beethovens früher C-Dur-Klaviersonate in irisierendem Bratschenton auf, geriet zunehmend in stilistische Transformation im Bild einer Chopin-Etüde. Stampfender Unisono-Tanzschritt aus Strawinskys Sacre, und nur einen Augenblick danach Walzer-Reminiszenzen an Schnittkes Studienzeit in Wien. Mustea und die von Lorenzo Viotti geradezu entfesselten Musiker des delikat und differenziert begleitenden BSO deuteten atemberaubend die Seelenwanderung eines Helden im Bratschenlied, seinen rastlosen Lebensweg über schwindelerregende Abgründe zu resignierendem Rückblick am Ende, das – dem Anfang gleich – zwei schier unendliche Bratschentöne über irisierende Celesta- und Cembaloakkorde ermattet ausklingen ließ. War es die Opernbühne, die Mustea die grenzenlose Koloratur der Violapartie so überwältigend gelingen ließ, so dass kaum ein anderes Konzert für Viola diesem Schnittke-Œuvre auch nur annähernd nahezukommen schien?