Der Name Mario Castelnuovo-Tedesco mag vielen nur andeutungsweise bekannt sein, dennoch ist er, gemessen am Umfang seines Schaffens, ein namhafter italienischer Tonsetzer des 20. Jahrhunderts. Zum einen ist Castelnuovo-Tedesco einer der wichtigsten Gitarrenkomponisten der neueren Zeit, zum anderen war er nach seiner Ausreise in die Vereinigten Staaten zu Beginn des 2. Weltkriegs als Filmkomponist in Hollywood an etwa 200 Filmen beteiligt, hat daneben aber auch Opern, Konzerte für namhafte Künstler sowie weitere Instrumental- und Vokalmusik geschrieben.
Das 1949 geschriebene Evangélion, das der Pianist Alessandro Marangoni für sein Rezital ausgesucht hat, ist sogar innerhalb Castelnuovo-Tedescos Schaffen ein Nischenprodukt, dessen geringer Bekanntheitsgrad sich auch an der kleinen Zahl von Zuhörern ablesen ließ. Einige mögen sich gedacht haben, das sei Musik für Kinder und lohne deshalb einen Besuch nicht...
In der Tat lautet der Untertitel übersetzt Die Geschichte von Jesus, für Kinder erzählt in 28 kleinen Klavierstücken. Die Charakterstücke dauern jeweils nicht mehr als vier Minuten und Castelnuovo-Tedesco bedient sich darin einer breiten Palette von Stilmitteln: Einige Stücke sind einfach gestrickt, vor allem in den ersten Teilen, deskriptiv ohne dabei plakativ-konkret zu werden. Manche sind kanonartig polyphon, andere homophon (Melodiestimme und Begleitung), wieder andere stark rhythmisch-perkussiv geprägt.
Zwar gab es Stellen, die mich entfernt an Klaviermusik von Tschaikowsky erinnerten; in anderen glaubte ich, Anklänge an Musik von Medtner oder Rachmaninow zu hören, praktisch durchwegs empfand ich die Musik jedoch als mehr motivisch denn melodisch: Castelnuovo-Tedesco arbeitet mit kurzen Melodiefragmenten. Selten fügen sich die Fragmente zu längeren, im Gedächtnis haftenden Melodien zusammen, und selbst wo sie das tun, behandelt der Komponist diese Melodie kaum als Thema, sondern fügt im Verlauf weitere Einfälle oder Motive hinzu. Die Sätze sind meist ohne erkennbare Struktur – die Stücke selbst bilden die Struktur der Komposition, gegen Ende zunehmend dramatisch (im ersten Abschnitt beispielsweise Nr.4 über das Massaker an den unschuldigen Kindern und natürlich die Kreuzigungsszenen im vierten Teil); viele wirken eher vergeistigt, in anderen drückt sich pralles Leben aus.
In Alessandro Marangonis Spiel spiegelte sich die eingehende Erfahrung mit diesem Werk – reich an dynamischen Schattierungen, von subtil bis (selten) aufbrausend, dabei immer unprätentiös, sich in den Dienst der Musik stellend, ohne virtuos wirken zu wollen, im Einklang mit seinem bescheidenen Auftreten. Man sollte bedenken, dass Evangélion für Kinder komponiert wurde, allerdings ging es hier um mehr als die nackte Musik sondern vielmehr um ein vom Pianisten gestaltetes Gesamtkunstwerk, oder zumindest einen Teilaspekt daraus.
Primär gehört zu dieser Komposition das Wort in der Form von Erzählungen nach der Bibel, von der Verkündigung bis zur Wiederauferstehung, gegliedert in vier Gruppen zu je 7 Klavierstücken: Die Kindheit, Das Leben, Die Worte, und Die Passion. Diese Kombination hat Alessandro Marangoni um den visuellen Aspekt erweitert, indem während der Musik und der Erzählung Bilder auf eine Tüll-Leinwand hinter dem Konzertflügel projiziert wurden. Das Auditorium blieb weitgehend verdunkelt, nur auf Höhe der Leinwand wurden Wände und Decke in wechselnden Farben beleuchtet und so die erwähnten vier Gruppen von Episoden / Klavierstücken markiert.