Darf’s etwas mehr sein? Wer eine Operninszenierung von Romeo Castellucci besucht, wird von der überbordenden Vielfalt seiner Regiegedanken geradezu überrollt, sieht sich im Rausch der überwältigenden wie ästhetischen Theaterbilder oft fast trunken. Bei den diesjährigen Salzburger Festspielen hatte man Gelegenheit, seine 2021 viel diskutierte Inszenierung von Mozarts Don Giovanni, bei der er Regie, Bühne, Kostüme und Licht verantwortet, in einer „Neueinstudierung“ als Wiederaufnahme zu erleben, die neben schon bekannten Solisten auch neue Kräfte aufbot. Insbesondere spielten nun das von Teodor Currentzis gegründete, internationale Festival Orchestra Utopia an Stelle des damaligen, russischen musicAeterna-Ensembles.
Schon zu Beginn ging leises Raunen durch die Zuschauer im ausverkauften Großen Festspielhaus: der Orchestergraben blieb im Dunkel, an Stelle der Ouvertüre entwickelte sich ein Vorspiel, in dem Handwerker den Wandschmuck und Kniebänke eines die Cinemascope-Bühne des Theaters füllenden, barocken rechteckigen Kirchenraums vorsichtig abnehmen und wegtragen. Schmucklos für den Fortgang der Handlung bleibt diese weißgraue Kulisse, die vielleicht zum Lösen von sich festsetzenden Riten und Erwartungen an das Spiel anregen soll, ein Freiräumen der Gedankenwelt. Aber auch im weiteren Verlauf ist diese Castellucci-Inszenierung nichts für Warum-Frager: manches bleibt im Moment unbeantwortet; das Undenkbare zuzulassen öffnet einen neuen Raum, vielleicht eine neue Dimension. Wer sich vor 40 Jahren auf das überraschende Mozart-Bild in Miloš Formans Film Amadeus einlassen konnte, hat gute Chancen, von diesem Don Giovanni angerührt zu werden.
Castellucci beschäftigt die Faszination der Hauptfigur in der Ambivalenz zwischen Vitalität und Zerstörung. Nicht nachdenken, sondern in Eile zu handeln ist sein innerer Antrieb; dabei kennt er weder Reue noch Schuldgefühle. Pausenlos agierend schafft er jedoch gleichzeitig auch Raum, Zeit, erzeugt Leben, das ihm auf der Bühne als Kinderschar begegnet. Ein entleerter, entweihter Kirchenraum wird zum Hauptquartier Don Giovannis. Darin ungläubiges Staunen, als würde man dem Spiel eines Kindes beiwohnen, das ein Spielzeug sucht: alles was plötzlich von der Decke herunterfällt, stellt in diesem Moment nicht zufrieden. Bälle, Feuerwerk, ein Auto gar. Ein Konzertflügel wird dabei geschrottet; Giovanni spielt gedankenverloren einige Sekunden darauf.
Haustiere kreuzen unbeachtet die Bühne. Zwei Kopiergeräte gehen auf roboterhafte Buchfühlung, wenn Leporello seine Registerarie singt. Nichts scheint passend; dem wohnt ein zerstörerischer Zug inne, wenn das Kind sein Spielzeug schließlich zerstört. In diesem Sinn erscheint Don Giovanni als „allzerstörerische“ Figur, die ihrer Frustration, das begehrte Objekt nicht erlangen zu können, Luft macht. Giovannis Narzissmus macht ihn blind, die drei Frauen der Oper in ihrer Individualität wahrzunehmen, statt sie als Objekt des Begehrens besitzen zu wollen.
War der erste Teil der Oper durch verblüffende, die erlernte Imagination fast übersteigende, quasi zirzensische Überraschungsmomente gekennzeichnet, dominiert im zweiten Abschnitt ein Spiel mit Bühnenvorhängen, das hinter einer fast unsichtbaren Gazeleinwand die Sicht in ruhigere Szenerien, dichter an der seelischen Verfassung der Akteure frei gibt. Es ist die Stunde der Tänzerinnen und von 100 Frauen, die stellvertretend für Giovannis 1003 Liebschaften stehen, die in faszinierenden Bilderfolgen sich immer neu formierender Gruppen die Akteure in ihre Mitte nehmen, rasend schnell zwischen Ballerinakostüm, Bäuerinnenkluft und Brautkleidern wechseln, ihre Identität zurückholen. Statuarische Momente lösen sich da oft in die Choreographie fließender Bewegungen von Ensembles auf, was an vom Wind überblasene Kornfelder denken lässt, welche ihre eigene Aura und Ruhe ausstrahlen.