Pelléas et Mélisande ist die einzige Oper von Claude Debussy und gilt nicht nur in dessen Œuvre, sondern in der gesamten Opernliteratur als Unikum, da sie keines der Klischees ihrer Zeit bedient. In ihrem Uraufführungsjahr 1902 war Verdi bereits ein Jahr tot, Puccini hatte Tosca hinter und Madama Butterfly vor sich. Es war die Zeit des italienischen Verismo und der großen Ratlosigkeit nach Wagner im deutschsprachigen Raum, in welcher Pelléas wie von einem anderen Stern erschien. Ein Geniestreich – radikal, aber in Pastellfarben, irgendwo in den unendlichen Weiten zwischen Clair de Lune und La Mer.
Da erzeugen Orchesternebelschwaden Naturstimmungen, ohne naturalistisch zu sein, und darüber schwingen sich die Singstimmen rezitativisch, nur lose eingewebt in die Musik wie Silberfäden in nachtblauem Organza. Das klingt mitunter repetitiv, aber auch narkotisch, betörend und doch fern von Wagner-Wucht und spätromantischem Schwulst. Insofern kommt man an Pelléas et Mélisande nicht vorbei, auch wenn das Werk mitunter als „Anti-Oper“ bezeichnet wird. Nicht nur die Musik hat wenig mit den gängigen Vorstellungen von der Oper der Jahrhundertwende zu tun; auch ihr dramatisches Fundament mit seinem losen Gewirk aus Szenen, die viele Fragen aufwerfen, aber keine Antworten geben, ist ungewöhnlich und fragil. Dennoch verzaubert die Geschichte nach Maurice Maeterlincks gleichnamigem Roman, welcher als Hauptwerk des Symbolismus gilt: Wo sich eine Dreiecksbeziehung à la Tristan und Isolde mit Archetypischem (Wasser als Element des Weiblichen), Märchenhaftem (Rapunzel) und noch viel mehr mischt, wird es interessant.
Soweit die Theorie, doch man ahnt es: Ein begabter Regisseur muss her, sonst platzt der impressionistische Traum wie eine Seifenblase. Marco Arturo Marelli hat für diese Inszenierung wie immer solide Arbeit geleistet, was Personenführung und psychologische Charakterisierung der Charaktere betrifft, doch muss einschränkend gesagt werden, dass ihm vieles schon viel besser gelungen ist. In seiner Deutung des Pelléas trifft zu Beginn ein in Militärfarben gekleideter sowie mit Flachmann und Jagdgewehr bewaffneter Golaud auf Mélisande, die im frisch gebügelten, strahlend weißen Kleid statt im Wald am baumlosen Rand der Festung Allemonde steht. Sofort wird klar: Auch Pelléas wird Weiß tragen, Mélisandes Ruderboot werden wir in den nächsten dreieinhalb Stunden noch öfter begegnen, und irgendwann werden wir einen Koffer sehen, das Standard-Requisit „moderner“ Regie. Diese Vermutungen bestätigen sich. Doch Symbole allein machen noch keinen Symbolismus, denn das Vorhersehbare ist die Antithese zur Künstlichkeit, zum bewusst Rätselhaften dieser Stilrichtung.
Rätselhaft bleibt eher, warum Marelli für seine Festung, deren Fundamente im Wasser schon morsch geworden sind, die Ästhetik eines Wiener Flakturms gewählt hat, und warum sich sein Bühnenbild auf die beiden Elemente Wasser und Beton beschränkt. Damit beraubt er sich und das Publikum mannigfaltiger Möglichkeiten, und der große Aufwand, um auf der Staatsopernbühne durchs Wasser zu waten und ein Ruderboot ziehen zu können, lohnt aus Sicht des Parkettpublikums kaum; vom Wasser ist nur wenig zu sehen, stattdessen dominiert graue Beton-Tristesse. Auch die Szene, wo sich Pelléas unter Mélisandes Fenster in ihrem langem Haar verstrickt, fällt in Ermangelung eines geeigneten Ortes ins Wasser – eine Pantomime auf besagtem Ruderboot ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Gelungen ist dafür das Ende, in dem Mélisande, statt im Kindbett zu sterben, sich auf eine Art Seelenreise begibt: Begleitet von einer Schar Dienerinnen in bunten Sommerkleidern (Kostüme: Dagmar Niefind), fährt sie stehend und erhobenen Hauptes auf einem Boot ins ewige Licht, oder zumindest in einen orange-glühenden Sonnenuntergang.