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In der Komponierstube: das Hagen-Quartett und Jörg Widmann im Pierre Boulez Saal

Par , 15 novembre 2024

Mit Werken von Robert Schumann und Johannes Brahms bewies das Hagen-Quartett und, im zweiten Teil Jörg Widmann, einmal mehr, dass sie vermögen, ihr Publikum in die Komponierstube mitzunehmen. Davon zeugte ihr jüngster Auftritt im Pierre Boulez Saal in Berlin.

Hagen-Quartett
© Andrej Grilc

Zunächst fühlte ich mich bei der Aufführung von Schumanns Drittem Quartett wie „in Geheimnis Stand“ versetzt – alles klang mehr wie gehaucht, denn intoniert: wie im Nebel tönte die Introduktion, und der Beginn des Themas war wie aus vergangenen Zeiten zitiert. Wer das Stück nicht kennt, vermutete vielleicht, es lüde zum Tanzen ein, doch dann setzte unvermittelt ein kleiner Kanon ein, und so ging es den ganzen Satz weiter. Alles schien so, als mache sich das Hagen-Quartett auf die Suche nach etwas, was es nicht mehr gibt. Selten war etwa ein gesangliches Thema so angestrengt vorgetragen, so mühsam errungen wie von Violoncellist Clemens Hagen gespielt.

Das ist – um Missverständnissen vorzubeugen – höchstes Lob! Denn die Aufführung traute sich zu zeigen, dass der Komponist während der Arbeit womöglich an seine Grenzen gestoßen war. In fahlen Tönen deckte sie das Grübeln des Komponisten auch in der Durchführung auf, wo Schumann alles auftürmte und doch zu keiner Lösung kam. Mit großer Sorgfalt in der Tongebung und trefflichem Kunstverstand wurde das Satzende wie als Abflachung des Verlaufes vorgetragen, so als gelte es, einen dezidierten Schlusspunkt zu vermeiden. Die wie nachgereichte Bassklausel im Violoncello klang denn auch wie ein Fragezeichen und nicht wie ein Punkt.

Auch der Beginn des zweiten Satzes wurde so fragil gespielt, dass die Motive wie verweht und zerstreut wie nach ihrer Gestalt suchten. Die Flucht in den Kontrapunkt wurde vortrefflich ebenso als vergebliche Wunschvorstellung nach Sicherheit in der etablierten Kompositionstechnik entlarvt, wie die Anklänge an das Siciliano im Trio, die Vertrautheit nur vortäuschten. In der Coda ließ das Hagen-Quartett dann die Phrasen wie Spiegelbilder einander reflektieren und die Musik einfach verklingen.

Im massiv-schwergängigen Thema des Adagio-molto-Satzes durfte Gesanglichkeit sich dann doch einmal entfalten, gar Schönklang aufblühen. Auch diesen Satz ließen die Vier, diesmal in morendo-Punktierungen, mehr auslaufen, als dass sie ein letztes Wort formuliert hätten.Im Rondo schien zunächst ein Kehraussatz seinen Lauf zu nehmen. Doch auch hier verriet ihr Spiel, dass sie den heiteren Ton des Satzes als Maskerade durchschaut hatten und auch als Spiel im Spiel vortrugen.

Jörg Widmann
© Marco Borggreve

Eine fast gespentische Gelassenheit der Musik entfaltete sich im zweiten Teil des Abends. Jörg Widmann trat hinzu, um gemeinsam mit dem Hagen-Quartett Brahms' Klarinettenquintett zu Gehör zu bringen. In diesem Spätwerk hat Brahms nicht mehr um die Form gerungen, nichts mehr bewältigt – und eben dies haben die Fünf fast beispiellos umgesetzt.

Wie ein Naturquell ebnete sich das Wellenmotiv zu Beginn seinen Gang in den Saal, gefolgt von dem punktierten Motiv, das so wichtig für den Rest des Werkes ist. Es wurde nicht angestrengt gearbeitet, sondern elegisch geschwärmt. Dem entsprechend ließ Widmann auch seine Dreiklangsbrechung wie eine Traumgestalt aus der Tiefe hochsteigen. Der Klang der Aufführung blieb stets wie verdeckt, jede Schärfe wurde gemieden, selbst im Kontrastgedanken, der wie ein energischer Gedanke hervortreten könnte, dessen Punktierungen hier aber sorgfältig abgefedert wurden.

Im zweiten Satz wusste das Ensemble mustergültig die Balance zwischen Komposition und Improvisation zu halten. Die Vielsträhnigkeit einer reglrechten Molekularbrechung motivischer Vernetzung klang im Sordino der Streicher wie ein Gemurmel und war doch Resultat höchster Spielkunst. Dann begann Widmann, so als habe er sein Instrument klammheimlich gegen eine Schalmei ausgetauscht, wie ein Hirte auf seiner Fujara in Unmittelbarkeit zu klagen und doch jeden Ton innig zu erfüllen.

Im dritten Satz ließ sich die Aufführung nicht von vermeintlich naiver Volkstümlichkeit zu einfachem Spiel verleiten, sondern kostete die Unregelmäßgkeiten der Phrasenbildung fein aus. Keinerlei auftrumpfende Finalität störte die Darbietung des Schlusssatzes. Vielmehr stellte sich jedes Instrument in den fünf Variationen einmal vor. Von tröstlicher Behaglichkeit war Widmanns Ländler-Begleitung in der dritten Variation. Schattenhaft zog das Ensemble das Unisono des punktierten Motivs am Ende des Werkes in die Länge. Der Kreis des In-sich-Kreisens hatte sich geschlossen.

Nach derart gelungener Musik hätte eine Zugabe das Publikum eher zerstreut. Wohl darum gab es keine. Gut so!

*****
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Critique faite à Pierre Boulez Saal, Berlin, le 12 novembre 2024
Schumann, Quatuor à cordes en la majeur, Op.41 no. 3
Brahms, Quintette avec clarinette en si mineur, Op.115
Jörg Widmann, Clarinette
Quatuor Hagen
Lukas Hagen, Violon
Rainer Schmidt, Violon
Veronika Hagen, Alto
Clemens Hagen, Violoncelle
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