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Auf der Suche nach einer neuen Balance in Wien: Alessandra Ferri

Von , 21 März 2024

Kurz nach der Bekanntgabe ihrer Ernennung zur künstlerischen Leiterin des Wiener Staatsballetts treffe ich mich mit Alessandra Ferri im Royal Opera House in London. Sie erzählt mir, dass sie gerade Francesca Hayward und Alexander Campbell in Manon einstudiert hat. „Es ist seine letzte Vorstellung, bevor er an die Royal Academy of Dance wechselt”, sagt sie. „Er muss sich ganz der Rolle hingeben. Wenn du deine letzte Vorstellung gibst, muss sie für dich selbst sein, für niemanden sonst!”

Alessandra Ferri
© ASH

Im Juni wird Ferri ihre eigenen Tanzschuhe endgültig an den Nagel hängen und in der New Yorker Premiere von Wayne McGregors Woolf Works mit dem American Ballet Theatre in einer Rolle zu erleben sein, die 2015 für sie geschaffen wurde. Ich frage sie, wie es wohl sein wird, diese Rolle mit einer anderen Kompanie erneut zu tanzen. Sie erklärt: „Nach dem Royal Ballet habe ich die Rolle an der Scala getanzt, es wäre also nicht das erste Mal. Es ist interessant, wenn man ein vertrautes Stück tanzt. Man hat eine andere Energie, eine andere Dynamik, einen anderen Stil, und das wirkt sich auf die Art und Weise aus, wie man die Rolle angeht. Die Beziehung zu deinem Partner oder mit wem auch immer du interagierst, ist neu. Das ist großartig, weil man nicht in die Falle tappt, es immer gleich zu machen. Es ist anregend und zwingt mich, tiefer einzutauchen.

„Die Erfahrung, eine Rolle so gut zu kennen, weil sie für mich geschaffen wurde”, erzählt Ferri weiter, „ist wirklich schön, weil ich das Gefühl habe, dass ich sie ins Ballett führen kann. Ich kann so etwas wie ein Anker sein, dem sie folgen können, wie der Anführer eines Rudels. Ich glaube, mit dem ABT wird es ein ganz besonderes Gefühl sein, weil ich eine so lange Beziehung mit ihnen, der Stadt und der Bühne des Metropolitan Opera House habe. Ich weiß, dass es das letzte Mal sein wird, dass ich dort auftrete.”

Alessandra Ferri während der Probe mit Edward Watson (The Royal Ballet)
© Andrej Uspenski

Ich muss sie darauf ansprechen – wird es wirklich das letzte Mal sein? Sie ist unmissverständlich: „Ja, auf jeden Fall! Ich weiß, dass ich das schon mal gesagt habe, aber jetzt geht mein Leben in eine andere Richtung. Ich freue mich wahnsinnig darauf und bin zu 100% dabei. In diesem Stadium meines Lebens nimmt das Tanzen den ganzen Tag in Anspruch, für meinen Körper, das Training. Ich habe die Energie für die eine oder andere Sache. Mit 35 kann man beides machen, aber in meinem Alter ist das zu schwierig. Es macht keinen Sinn. Ich bin bereit, auf der anderen Seite zu sein.”

Ich bin neugierig, etwas mehr über ihr Coaching zu erfahren. „Ich glaube nicht, dass man alles selbst getanzt haben muss, um etwas zu coachen”, sagt sie. „Jeder, der eine große Karriere hinter sich hat, hat so viel über Tanz im Allgemeinen gelernt. Wenn man ein Auge hat, das bei der Technik, der Verfeinerung, helfen kann, um diese Technik sprechen zu lassen – denn darum geht es –, kann man das bei jeder Rolle tun.”

Alessandra Ferri im dritten Akt von Wayne McGregors Woolf Works
© Tristram Kenton

Wie sieht es mit dem Coaching der Männer aus? „Mit der Technik habe ich keine Schwierigkeiten, aber ich bin nicht unbedingt gut darin, ihnen bei den Pas de deux zu helfen, denn damit habe ich mich nie wirklich beschäftigt!” Wir brechen in Gelächter aus. „Ich hatte immer tolle Partner. Wissen Sie, das war ihr Job, ich hatte meinen!” Noch mehr Gelächter. „Ich hatte das Glück, dass Ed Watson mit im Studio war, als ich Manon coachte, und wir haben es zusammen gemacht. Ich weiß nicht, was man zum Heben braucht, aber ich konnte der Tänzerin sagen, wie sie helfen kann.”

Ich bin neugierig, ob sie jemals in Erwägung ziehen würde, eine Charakterrolle zu spielen, wie z. B. Lady Capulet in Romeo und Julia. Ohne Luft zu holen, antwortet sie: „Nein, nein, nein! Ich möchte nicht mehr auf der Bühne stehen. Ich möchte für die Tänzer da sein.”

Alessandra Ferri und Gary Avis im ersten Akt von Wayne McGregors Woolf Works
© Tristram Kenton

Der Plan ist, nach ihrer letzten Aufführung von Woolf Works mit dem Tanzen aufzuhören – aber gibt es einen Vorbehalt? „Nun, wissen Sie, ich sollte eigentlich nach der Vorstellung von Woolf Works hier in London aufhören, aber dann bekam ich zwei Wochen später einen äußerst süßen Anruf von John Neumeier. Ich hatte meine Schuhe schon in den Schrank gestellt. Ich dachte, er würde mich bitten, Coach zu werden, aber er bat mich, seinen Nijinsky zu machen!” Das konnte sie nicht ablehnen. „Es ist eine Sache, etwas zu machen, das für dich geschaffen wurde, aber in diesem Stadium meiner Karriere eine völlig neue Rolle zu übernehmen...”

Obwohl sie offiziell erst im September 2025 ihren Dienst in Wien antritt, reist sie regelmäßig dorthin, um die Kompanie kennen zu lernen, erklärt sie. „Ich mache die Planung. Es geht nicht darum, einfach Ballette auszuwählen, die wir machen wollen, sondern wir müssen herausfinden, ob es machbar ist. Passt es mit der Oper zusammen? Es ist ziemlich komplex, ein großes Puzzle. Ich mag es sehr, was für mich ziemlich überraschend ist! Ich wusste, dass mir die Arbeit mit den Tänzern liegen würde, aber der Managementteil macht mir wirklich Spaß. Nach 40 Jahren, in denen ich in vielen verschiedenen Kompanien gearbeitet habe, weiß ich eigentlich mehr, als ich denke.”

Alessandra Ferri probt mit Natalia Osipova und Reece Clarke in MacMillans Different Drummer
© Royal Opera House

Hat sie das Gefühl, dass das Ballett im Vergleich zur Oper zweitrangig ist? „In jedem großen europäischen Opernhaus ist das der Fall. Wir alle wissen das. Aus vielen Gründen: historisch, finanziell. Die Oper ist eine größere Maschine und braucht mehr Platz. Ich glaube, es ist wichtig – und das habe ich in Wien – eine ehrliche Beziehung zum Intendanten zu haben, der vielleicht keine Ahnung vom Tanz hat. Wenn es seine Intention ist, eine wirklich große Ballettkompanie zu haben, muss er verstehen, dass er Ihnen die Mittel zum Arbeiten geben muss. Ich bin nicht Don Quixote, also habe ich keine Illusion, dass ich die gleiche Anzahl von Vorstellungen haben werde wie die Oper.”

Ferri hält sich verständlicherweise bedeckt, was genau sie für ihre erste Saison plant, erklärt aber, warum sie keine neue Kreation in Auftrag geben wird. „Es ist ein neues Ensemble und ein neues Haus. Die erste Premiere des Hauses wird also nur einen Monat nach meiner Ankunft stattfinden. Ich kann unmöglich so schnell eine neue Choreographie in Auftrag geben. Irgendwann werden wir es aber tun. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir weiter Neues schaffen müssen, aber die Qualität ist für mich unglaublich wichtig.

„Jedes große Opernhaus hat eine Verantwortung, die Tradition und die Wurzeln, die Identität des Hauses und der Stadt mit ihrer eigenen Geschichte zu respektieren”, fährt sie fort. „Ich könnte das Ensemble nicht leiten, ohne zu berücksichtigen, dass es sich um Wien handelt. Aber man darf nicht vergessen, dass wir im Jahr 2025 sind und es muss ein Gleichgewicht geben: die Wurzeln und die neuen Blüten! Und die Wurzeln müssen gesund sein, um sich zu schönen Blumen zu entwickeln.”

Alessandra Ferri und Federico Bonelli in Ashtons Marguerite and Armand
© Royal Opera House

Ich frage sie, ob sie sich Sorgen macht, dass sie nicht genug Zeit im Studio verbringen wird. „Nein”, sagt sie. „Ich habe dafür gesorgt, dass ich ein gutes Team um mich herum haben werde, damit ich so viel Zeit wie möglich im Studio verbringen kann. Tänzerinnen und Tänzer müssen inspiriert werden, und als Leiterin möchte ich ihnen das geben.”

Ferri bewahrt sich einen selbstironischen Sinn für Humor. „Es gibt eine wirklich schlechte Seite an all dem, und das ist mein Deutsch – oh mein Gott!” Sie wirft entsetzt den Kopf zurück. „Im Theater ist das kein Problem, aber ich mag es, in Kaffeehäusern zu sitzen und mich unterhalten zu können. Ich glaube auch, dass man die Sprache sprechen muss, um eine Kultur wirklich zu verstehen. Ich möchte sie lernen. Nach Woolf Works werde ich damit beginnen. Sprachen haben eine gewisse Musikalität, und selbst wenn ich nicht alles verstehe, ein bisschen werde ich verstehen!”

Ich frage sie, was sie vermissen wird, wenn sie nicht mehr tanzt. Sie denkt einen Augenblick nach und zieht eine Grimasse: „Nicht den Schmerz!” Wir lachen wieder. „Tanzen hat etwas ganz Besonderes an sich, das schwer zu beschreiben ist. Es ist eine Art von Freiheit. Es ist paradox, denn wenn ich tanze, habe ich fast das Gefühl, von meinem eigenen Körper befreit zu sein. Es ist die Überwindung von sich selbst, von dem, was wir sind, dem Fleisch. Das ist wahnsinnig schön. Du bist nicht in deinem Körper gefangen.”

Alessandra Ferri und Federico Bonelli in Ashtons Marguerite and Armand
© Royal Opera House

Ich möchte wissen, ob Ferri irgendetwas so lohnend findet wie das Tanzen selbst. Sie antwortet: „Wenn ich coache und sehe, dass ein Tänzer sich verbessert und Fortschritte macht, finde ich das sehr erfüllend.”

Als ich sie frage, worauf sie sich in diesem neuen Kapitel am meisten freut, lächelt sie. „Selbst nicht mehr trainieren zu müssen! Nein, das war ein Scherz! Worauf ich mich wirklich freue, ist zu lernen und mich weiterzuentwickeln. Ich liebe es, dass sich meine Leidenschaft für den Tanz mit meinem Alter weiterentwickelt. Es geht nicht darum, den Tanz aufzugeben, sondern in einer anderen Form beizubehalten. Es ist einfach aufregend, eine neue Fähigkeit zu erlernen.”

Ich frage sie, ob sie schon immer daran gedacht hatte, künstlerische Leiterin zu werden, und sie antwortet mit der üblichen Offenheit. „Ja, vielleicht nicht immer, aber sicherlich in den letzten Jahren. Wenn ich das Gefühl habe, dass etwas richtig ist, brauche ich eine Minute, um ja zu sagen! Ich freue mich wirklich sehr auf Wien. Ich hoffe, dass ich die Tänzerinnen und Tänzer inspirieren kann, und ich bin wirklich inspiriert von ihnen. Es ist mein Wunsch, diese schöne menschliche Erfahrung zu teilen. Ich möchte nie vergessen, was für ein Privileg es ist, in einem so gesegneten Umfeld zu arbeiten: dem Theater, dem Tanz und der Musik.”


Alessandra Ferri ist Gastrepetitorin des Royal Ballet.


Ins Deutsche übertragen von Elisabeth Schwarz.

“es muss ein Gleichgewicht geben: die Wurzeln und die neuen Blüten”