An einem sonnigen, aber kühlen Sommernachmittag treffe ich Elena Stikhina auf einer Terrasse mit atemberaubendem Blick über Salzburg. Die russische Sopranistin hat in kaum mehr als einem Jahrzehnt eine Karriere aufgebaut, die sie von ihrem ersten Engagement in Wladiwostok bis auf die größten Bühnen der Welt geführt hat. Sie wird für die Kraft und Wärme ihrer Stimme ebenso gefeiert wie für die Glaubwürdigkeit ihrer Interpretationen. Und obwohl sie weltweit Diva-Rollen verkörpert, ist sie im wirklichen Leben alles andere als eine Diva. In unserem Gespräch ist sie warm und zugänglich und spricht offen über ihren Weg zum Erfolg und die herausfordernde Realität des Sängerlebens.
Sie sind bereits zum fünften Mal zu Gast bei den Salzburger Festspielen. Was gefällt Ihnen am Festival und an der Stadt?
Für mich ist Salzburg ein wirklich persönlicher Ort, weil ich hier meinen Ehemann kennengelernt habe. Ich betrachte Salzburg außerdem ein bisschen als eine Märchenstadt: Sie ist sehr klein, aber sie hat alles, was ich am meisten mag. Es gibt Berge, gutes Essen und Seen in der Nähe, wo man umgeben von der Natur schwimmen kann. Zum ersten Mal kam ich für eine sehr schwierige Oper hierher, für Medea – ich bin für Sonya Yoncheva eingesprungen – und ich wusste nicht, was mich erwarten würde, weil alles so kurzfristig war. Aber Salzburg hat mir einen schönen Empfang bereitet und die Aufführungen waren ein großer Erfolg.
Wie halten Sie Ihr Energieniveau nach einer langen Saison hoch?
Ich denke, das Geheimnis ist, dass ich eine unglaubliche Leidenschaft für das habe, was ich tue. Ich liebe meinen Beruf. Ich denke, ich bin eine der glücklichsten Personen der Welt, weil ich meine Leidenschaft früh gefunden habe und tatsächlich werde ich meiner Arbeit nie überdrüssig. Und natürlich habe ich auch Urlaub! Aber der Schlüssel ist, dass man nicht nur während der Urlaubszeit auf sich achtet, sondern immer.
Wie wählen Sie aus, welche Rollen Sie singen?
Das ergibt sich im Austausch mit den Opernhäusern. In Salzburg wurde mir zum Beispiel Maddalena in Andrea Chénier angeboten. Es ist keine allzu große Rolle, aber sie ist herausfordernd, weil die Tessitura der Rolle sehr tief liegt. Ich weiß, dass es schwierig ist, diese Oper anzusetzen, weil man zuerst einen Tenor finden muss, denn für den Tenor ist es eine extrem anspruchsvolle Rolle. Deshalb wird sie so selten aufgeführt, und ich habe beschlossen, diese Gelegenheit zu nutzen.
Ist es schwieriger, eine Figur – besonders beim ersten Mal – ohne szenische Produktion und ohne Kostüme darzustellen?
Es ist viel schwieriger! Denn hinter Kostümen und Bühnenbildern kann man sich ein bisschen verstecken auf der Bühne. Aber in der Konzertversion muss man die Figur anders präsentieren. Man muss alles – die Geschichte und all die Emotionen – mit der Stimme und ihren Farben zeigen. Aber es macht auch sehr viel Spaß und ich freue mich darauf!
Welchen Moment in Andrea Chénier mögen Sie am liebsten?
Das Schlussduett. Es ist das beste Schlussduett, das je geschrieben wurde. Es ist so schön, so intensiv, so voll Pathos, es ist so… ich weiß nicht, ich kann es nicht erklären. Man muss es einfach hören, um zu verstehen, wovon ich spreche!
Wann haben Sie Ihre Liebe zur Oper entdeckt?
Als ich 15 war, traf ich meine erste Lehrerin; ihre Leidenschaft für die Oper hat mich beeinflusst. Ich habe zwar an einer Musikschule Klavier gelernt, aber ich war nicht begeistert von klassischer Musik. Dann traf ich meine Lehrerin, sie entdeckte, dass ich eine Stimme habe und sie hat mich in diese Welt eingeführt und mir Aufnahmen zum Anhören gegeben. Und als ich begann zu singen, habe ich gemerkt, dass es mir gefällt und ich hatte dieses Gefühl, dass ich weitermachen möchte. Wenn man seine Leidenschaft findet, ist das etwas, das man immer tun möchte! Und später wurde ich mit 17 am Moskauer Konservatorium aufgenommen.
Wie haben Sie schließlich den Weg von einer kleinen russischen Stadt auf die großen Bühnen der Welt geschafft?
Tatsächlich waren die zwei Jahre nach meinem Universitätsabschluss sehr schwierig, weil ich keine Arbeit finden konnte und ich dachte, vielleicht ist es Zeit aufzuhören. Aber ich habe dann noch in Moskau am Wischnewskaja-Zentrum weiter studiert. 2014 gab es dann ein Vorsingen für das Theater in Wladiwostok, weil es ein neues Theater war, brauchten sie ein festes Ensemble. Beim ersten Vorsingen war ich nicht erfolgreich. Dann machten sie ein zweites Vorsingen, weil sie noch mehr Sänger brauchten, speziell für die Partie der Nedda in Pagliacci. Sie fragten mich: „Wir haben eine Premiere in zwei Wochen. Sind Sie bereit für eine Produktion?“ Ich kannte nur die eine Arie, aber ich sagte: „Ja, ich bin bereit!“ Und dann, zwei Tage später, riefen sie mich an und luden mich nach Wladiwostok ein. Ich habe die Rolle dann sehr schnell einstudiert. Zum Glück ist es eine kurze Oper!
2016 nahmen Sie am renommierten Wettbewerb Operalia teil – wie war diese Erfahrung?
Es war eine wirklich tolle Erfahrung. Ich habe nichts von dem Wettbewerb erwartet, weil ich schon an vielen Wettbewerben teilgenommen hatte, aber ich war nicht immer sehr erfolgreich dabei. Aber Operalia hat meine Karriere auf eine andere Stufe gehoben, weil mich dort der Casting-Direktor der Pariser Oper gesehen hat, der mir die Gelegenheit gab, 2017 für Anna Netrebko [in Eugen Onegin] einzuspringen.
Ist es eine Herausforderung, aktuell an zwei Tosca-Produktionen gleichzeitig zu arbeiten?
Überhaupt nicht. Die Wiener Produktion [von Margarete Wallmann] ist sehr klassisch und ich liebe sie. Ich liebe sie besonders wegen des Kleides im zweiten Akt, das ist mein Lieblingsmoment. Ich habe in dieser Inszenierung schon zweimal gesungen, jetzt wird es mein drittes Mal sein, und ich hoffe, es ist nicht das letzte Mal. Ich hoffe, dass sie noch lange bestehen bleibt! Aber Barrie Koskys Produktion [in Amsterdam] ist auch wirklich toll. Letztlich dreht sich alles um die Qualität, es geht nicht darum, wie man es nennt – modern oder klassisch.
Wie hat sich Ihre Interpretation von Tosca im Laufe der Jahre verändert?
Sie verändert sich eigentlich in jeder Aufführung, in jeder Inszenierung, weil man die Geschichte jeden Tag aus einer anderen Perspektive betrachtet. Zum Beispiel war vor zehn Jahren alles an der Geschichte für mich sehr romantisch, heute denke ich eher, dass alle Figuren krank sind. Aber ohne diese Art von Drama, ohne den Konflikt, funktioniert Oper nicht. Aber im wirklichen Leben würde man es jetzt als toxische Beziehung bezeichnen. Zunächst war es für mich jedoch sehr schwierig, Toscas Charakter am Beginn der Geschichte zu verstehen. Als ich diese Partie einstudiert habe, ging ich deshalb zu meiner damaligen Lehrerin, Makvala Kasrashvili und sie erzählte mir, dass der Regisseur Boris Pokrovsky ihr einmal gesagt hatte, dass der erste Akt von Tosca mehr wie eine Operette sei. Und dann beginnt im zweiten Akt das eigentliche Drama. Man muss also einen anderen Weg finden, den ersten Akt zu gestalten, als den zweiten und dritten Akt.