„Ich liebe es zu kommunizieren, auch abseits der Musik. Ich liebe es, Menschen zu treffen”, erklärt der Geiger Hans Christian Aavik. Der in Estland geborene und derzeit in Deutschland lebende Aavik verbindet einen scharfsinnigen Intellekt und Neugierde mit einer extrovertierten Ausstrahlung, die ihn zu einem der aufregendsten jungen Talente Europas hat werden lassen.
Aavik erzählt von seinen ersten musikalischen Schritten. „Ich war fünf Jahre alt. Ich habe einen älteren Bruder, der zuerst mit Geige anfing, dann aber zur Trompete gewechselt hat. Die Geige lag einfach zu Hause herum, und meine Familie meint, dass ich immer im Zimmer meines Bruders war und nach ihr gesucht habe! Meine Mutter hat mich gefragt, ob ich es lernen möchte, und ich habe ja gesagt.”
Nach dem Abitur zog er nach Deutschland, um an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt zu studieren. „Es war ein großer Schock, aus Estland zu kommen und plötzlich in einer großen Stadt zu sein. Am Anfang war es ein bisschen überwältigend. Es war schwer, sich zu entscheiden, in welches Konzert ich gehen sollte, weil es jeden Abend so viele Möglichkeiten gab!”
„Das Umfeld ist so motivierend für mich. Deshalb bin ich dorthin gegangen, einfach um in der kulturellen Heimat von so vielen Komponisten zu sein”, erklärt Aavik. „Ich bin sehr froh, dass ich den Mut gefasst habe, dorthin zu gehen – und ich hab eine Menge davon gebraucht, denn ich war gerade mit der Schule fertig und zu Hause ist es immer bequemer. Ich erinnere mich an den ersten Abend im Wohnheim, ich hatte nichts – nicht einmal eine Decke oder ein Kissen – und ich weiß noch, dass ich mich gefragt habe, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Aber jetzt genieße ich es wirklich, also war es eine gute Entscheidung!”
Aavik steht noch am Anfang seiner Karriere, er hat erst vor kurzem seinen 22. Geburtstag gefeiert, hat aber bereits eine Vielzahl von Auszeichnungen und Preisen in ganz Europa gesammelt, zuletzt den ersten Preis bei der Estonian String Players Competition 2020. Glaubt er, dass Wettbewerbserfolge heute eine Voraussetzung für junge Künstler sind? „Ich muss zugeben, dass ich etwas gemischte Gefühle gegenüber Wettbewerben habe! Ich denke nicht, dass es für einen Künstler notwendig ist, an Wettbewerben teilzunehmen, aber sie haben mir sehr geholfen, ein Ziel zu setzen. Ich habe das Gefühl, dass ich mich immer sehr weiterentwickle, wenn ich mich auf einen Wettbewerb vorbereiten muss: Es geht nicht so sehr um den Erfolg, sondern um die Chance, sich wirklich auf die Vorbereitung und das Kennenlernen eines großen Repertoires an Musik zu konzentrieren.”
Trotz seines jungen Alters tritt Aavik bereits mit seiner eigenen, unverwechselbaren Stimme auf. Wie geht ein junger Künstler vor, um seine eigene künstlerische Perspektive zu entwickeln? „Ich studiere bei Erik Schumann, den ich in Estland kennengelernt habe - ich habe ihm nur ein paar Töne vorgespielt, aber ich hatte schon das Gefühl, dass es zwischen uns wirklich klick gemacht hat. Ich bin jetzt seit drei Jahren bei ihm und wir denken wirklich in allem gleich, nicht nur in der Musik. Seine Schüler sind nie gleich - sie klingen nicht gleich, sie haben nicht die gleiche Persönlichkeit. Er konzentriert sich wirklich darauf, sicherzustellen, dass die eigene Persönlichkeit zum Vorschein kommt, um die eigene Perspektive auf die Dinge zu nehmen und sie noch stärker zu machen. Es ist überhaupt nicht technisch: Es geht mehr darum, wie man die Dinge sieht, wie man sie sehen will, und welche Perspektiven man einbringt.”
Aavik spielt auf einer Giovanni Paolo Maggini von 1610, einer Leihgabe der Estnischen Stiftung für Musikinstrumente. Trägt dies auch zu seiner künstlerischen Ausdrucksform bei? „Geigen haben wirklich ihren eigenen Charakter”, stimmt er zu. „Ich habe viele großartige Instrumente ausprobiert, aber dieses hier liegt mir wirklich besonders am Herzen. Ich finde es erstaunlich, dass sie 1610 gebaut wurde – da war Bach noch nicht einmal geboren! Übrigens, der frühere Besitzer war Vladimir Sapožnin, der ein großer Freund von David Oistrach war. Als Sapožnin verstarb, blieb die Geige einfach 20 Jahre lang unter einem Bett, bis sie bei der Estnischen Stiftung für Musikinstrumente gelandet ist. Ich habe die Geige seit 2017 und hoffe, dass ich noch viele Jahre auf ihr spielen kann.”
Er hat noch ein weiteres Ass im Ärmel: das Studium der Originalmanuskripte der Komponisten. „Ich habe immer das Gefühl, dass man dem Komponisten näher ist, wenn man sehen kann, wie er geschrieben hat und welche Entscheidungen er getroffen hat”, erklärt er, „und man kann sehen, wie der Komponist denkt, durch die Art, wie er auf dem Papier schreibt. Ich erinnere mich, dass ich einmal das g-Moll-Streichquintett von Mozart gespielt habe, und er hatte so viele Dinge verändert! Aber man konnte dahinter sehen, was er herausgekritzelt hatte. Ich habe versucht, diese hingekritzelten Varianten zu spielen, und plötzlich gab mir das eine ganz neue Perspektive.”