Wettbewerbe gehören zu den faszinierendsten Tieren im Zoo der klassischen Musik. Geht man in ein Konzert, hat man stets das Gefühl, hinter einem Fenster von außen zuzusehen. Aber bei einem Wettbewerb, wenn man die Künstler durch etliche stressige Runden begleitet, befindet man sich unversehens inmitten des Löwenkäfigs. Hier sitzt man neben einem jungen Künstler auf einer emotionalen Achterbahn und hofft die ganze Zeit, dass er oder sie nicht von den eigenen Nerven, der Jury oder von beidem zerrissen wird. Konzerte vermitteln große Emotionen wie Schwermut und Glück über die Partitur. Bei Wettbewerben ist dies natürlich ebenso, aber hinzu kommen Angst, Neid, Wut, Stolz und aufrichtige Erleichterung. Und die Künstler interpretieren diese Gefühle nicht nur durch Musik: sie durchleben sie – zusammen mit Freunden, Familie und anderen mitfühlenden Musikenthusiasten.
In der weltweiten Wettbewerbsszene ist der ARD-Wettbewerb nicht nur faszinierend, sondern wahrlich einzigartig, da er mehr Instrumente und Kammermusik-Kombinationen als alle anderen Wettbewerbe auf diesem Niveau prämiert. Letztes Jahr standen Kontrabass, Horn, Harfe und Streichquartett auf dem Wettbewerbsprogramm. 2017 Oboe und Gitarre neben Klavier und Violine. Eine Rekordanzahl von 640 Bewerbern wurde von den geduldigen Vor-Juroren ausgewählt. Im Fall des Violin-Wettbewerbs mussten sie die gleiche Haydn Sonate immer und immer wieder hören, bis sie sich schließlich für 46 Kandidaten entschieden hatten. Am 28. August begann die 1. Runde unter der Leitung einer Jury, die mit Meisterviolinisten wie Benjamin Schmid, Isabelle van Keulen und Tasmin Little und berühmten Professoren wie Mauricio Fuks besetzt war.
Die musikalische und technische Qualität der Kandidaten war beeindruckend und die Zuhörer erkannten schnell, dass man sich von einigen Vorurteilen verabschieden sollte: Europäer spielten auf dem gleichen technischen Niveau wie ihre asiatischen Mitstreiter; und asiatische Musiker interpretierten mit ebenso viel Leidenschaft und Gefühl wie westliche Künstler. Und doch war das Semifinale eine Europameisterschaft mit sechs Kandidaten aus Bulgarien, Frankreich, Lettland, Italien und Deutschland (2x), die sechs Mozart Konzerte (KV218 zweimal) zum besten gaben, sowie sechs Uraufführungen des Auftragswerkes For Solo Violin von Avner Dorman (*1975). Es ist eine Tradition des ARD-Wettbewerbs, eine zeitgenössische Komposition für das Semifinale in allen Kategorien in Auftrag zu geben und es zeigte sich auch dieses Jahr, wie wertvoll diese Regel ist, um letztlich ein angemessenes Urteil zu fällen.
Andrea Obiso spielt Mozarts Violinkonzert in G-Dur im Semifinale des Wettbewerbs:
Der bekannteste Kandidat des diesjährigen Wettbewerbs, Feodor Rudin (France), konnte leider nicht an die technische Brillanz, welche er in vorherigen Wettbewerben gezeigt hatte, anschließen - hören Sie sich zum Beispiel seine Interpretation von Paganinis Caprice Nr. 5 beim Singapur Wettbewerb 2015 an. Dann waren da noch die elegante und doch so unnahbare Liya Petrova (Bulgarien) und der gleichsam elegante aber zu kontrollierte Lorenz Chen aus Deutschland. Am Ende des Halbfinals standen drei Finalisten fest: Die engelsgleiche Kristine Balanas aus Lettland mit ihrem noblen Ton, die aus der Ära Dinu Lipattis gefallen zu sein schien. Sie gewann schließlich den 3. Preis. Andrea Obiso erhielt den 2. Preis für seine makellose Technik und seinen unkonventionellen, überaus transparenten und direkten Stil. Im Violinkonzert Nr. 1 Prokofjews überzeugte der Matador Obiso fast durchgehend, außer in einigen langsameren Passagen, die subtilere und geheimnisvollere Schattierungen verlangen. Zum Auftragswerk von Avner Dorman jedoch passte sein Stil perfekt. Niemand spielte dieses Stück so unterhaltsam wie Andrea, was ihm den Preis für die beste Interpretation der Auftragskomposition einbrachte. Sarah Christian gewann ebenfalls den 2. Preis und zudem den Publikumspreis. Sarah ist ein weiteres großartiges Talent aus dem Großraum München und reiht sich damit neben Julia Fischer, Arabella Steinbacher, Lena Neudauer und Veronika Eberle ein. Diese Region ist wahrlich ein bemerkenswertes Nest junger talentierter Violinistinnen!
Sarah Christian spielt Prokofjews Violinkonzert Nr. 1 im Finale:
Zwei Tage nach dem Finale hatte ich das Vergnügen, mit Andrea und Sarah in München zu plaudern.
Zunächst einmal, Gratulation! Wie fühlt ihr euch heute, zwei Tage nachdem ihr diesen herausragenden Preis gewonnen habt?
SC: Ich bin noch immer nicht ganz entspannt. Es ist schwer, diese Energie und Spannung loszulassen. Außerdem muss ich mich um meine Geige kümmern. Solche Wettbewerbe sind nicht nur für uns stressig, sondern auch für unsere Instrumente. Natürlich habe ich nach dem Finale eine Party mit vielen Freunden gefeiert. Aber es fühlt sich noch immer nicht ganz real an, ich muss das wohl erst noch alles verdauen.
Wie findet ihr den ARD-Wettbewerb im Vergleich mit anderen Wettbewerben, an denen ihr teilgenommen habt?
SC: Ich hatte eine großartige Zeit und habe mich stets wohl gefühlt. Das Publikum war sehr freundlich und offen, zum Beispiel wenn wir zeitgenössische Stücke spielten. In jeder Runde musste man ein Werk aus dem 20. Jahrhundert interpretieren. Für gewöhnlich ist das sehr anstrengend für das Publikum, und das spürt man. Das Münchner Publikum allerdings vermittelte mir ein gutes Gefühl und es war sehr angenehm zu spielen, eher wie ein Konzert als ein Wettbewerb.
AO: Stimmt. Ich fühlte mich hier ebenfalls willkommen und es fühlte sich nicht wie ein Wettbewerb an. Ab der zweiten Runde war jedes Konzert komplett ausverkauft. Ich dachte “Wow, ein Italiener spielt und so viele Leute kommen.” Wirklich großartig! Nach dem letzten Konzert dachte ich: “Ist es schon vorbei? Was soll ich nur morgen machen?” Es ging alles so schnell und war so intensiv, wir mussten unser Repertoire alle zwei Tage ändern und hatten nur ein paar Stunden Zeit, um uns auf die nächste Runde vorzubereiten. Ich kam direkt von einem anstrengenden Monat mit viel Kammermusik in Frankreich, komplett unterschiedliche Stücke, und jetzt gehe ich auf Tournee mit wiederum einem anderen Repertoire. Aber hey, das ist ein großartiges Training für uns, so wird unser Leben als professionelle Musiker aussehen. Und ja, ich bin erschöpft. Aber auch sehr sehr glücklich!
Spielt ihr bei einem Wettbewerb anders als bei einem „normalen” Konzert?
AO: Nein, ganz und gar nicht. Viele Wettbewerbsteilnehmer machen sich Gedanken über die richtige Taktik und darüber, was die Jury hören will, anstatt darüber, was sie selbst ausdrücken möchten. Ich glaube nicht, dass man das tun sollte. Ich will immer der Gleiche sein, beim Frühstück, in der Garderobe und auf der Bühne: transparent und ehrlich.
SC: Der einzige Weg zu überzeugen ist, man selbst zu sein. So paradox es jedoch klingen mag: Um beim Musizieren man selbst zu sein, muss man als Person einen Schritt zurücktreten. Im Vordergrund steht, was ich durch die Musik ausdrücken will. Natürlich kann jeder Teilnehmer beim ARD-Wettbewerb Geige spielen. Was also heraussticht ist, was man musikalisch ausdrückt, ohne sich dabei selbst zu ernst zu nehmen. Was mir außerdem half, genau wie Andrea, war die Tatsache, dass ich als Konzertmeisterin der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen eine vollgepackte Saison vor und nach dem Wettbewerb habe. Ich hatte kaum Zeit, mich auf den Wettbewerb zu konzentrieren. Es war natürlich ein äußerst wichtiger Programmpunkt in meinem Kalender, aber eben nicht der einzige.
Ein Zweiter Preis beim ARD-Wettbewerb ist wie ein Erster Preis bei den meisten anderen Wettbewerben. Habt ihr vor, noch bei anderen Wettbewerben anzutreten, obwohl ein „Crescendo” ja kaum mehr möglich ist?
SC: Das war mein letzter Wettbewerb. Ich habe wahrlich an vielen teilgenommen. Obwohl ich froh bin, dass dieses Kapitel nun abgeschlossen ist, war es großartig, auf ein Ziel hinzuarbeiten und all die unvorhergesehenen Herausforderungen zu meistern. Man wächst mit jedem Wettbewerb und ich würde es jedem empfehlen. Aber nun werde ich mich voll auf meine Karriere konzentrieren.
AO: Da ich 4 Jahre jünger bin als Sarah, ist das erst mein 3. Wettbewerb, ich fange also erst an. Was Sarah alles erreicht hat, nötigt mir großen Respekt ab und ich will genau wie sie durch Wettbewerbe wachsen. Aber man sollte nicht vergessen, dass Wettbewerbe wie Bingo sind: Zufall und Glück spielen eine wichtige Rolle.