Lange Zeit galt Jordi Savall als Spezialist für die Musik der Renaissance von unterschiedlichsten Regionen; der künstlerische Horizont des inzwischen 83-jährigen Katalanen war ungewöhnlich weit gespannt. Drei Ensembles gründete er, mit diesen ordnete er den musikalischen Kosmos aus acht Jahrhunderten: La Capella Reial de Catalunya widmet sich der Überlieferung aus seiner katalanischen Heimat und der spanischen Musik, Hespèrion XXI steht für die europäische Musik vom Mittelalter bis zum Frühbarock, mit Le Concert des Nations hören wir die Traditionen des europäischen Barocks bis zum Anbruch der Klassik, bei ersten Schubert-Werken gar zu früher Romantik hin.
Lina Johnson, Olivia Vermeulen, Jordi Savall, Martin Platz und Manuel Walser
© Salzburger Festspiele | Marco Borrelli
Seine Aufnahme von Ludwig van Beethovens Symphonien im Jahr 2020 sorgte für Furore, 2023 bereits präsentierte er bei den Salzburger Festspielen eine Reihe dieser Werke. Jetzt hat Spaniens Originalklang-Ikone mit seinem auf gut 60 Musiker angewachsenen Orchester Le Concert des Nations im Salzburger Haus für Mozart die beiden letzten Symphonien Beethovens eine ähnliche Radikalkur durchlaufen lassen, wie sie in ihrer Intensität eher selten zu hören ist.
Nach der rhythmisch fast exzessiven Siebenten hat Beethoven in seiner Achten Symphonie unmittelbar ein doppelbödig-ironisches Werk folgen lassen. Schon in der Kürze dieser gelöst unbeschwerten „kleinen F-Dur-Symphonie“ macht sich der Einfluss seines ersten Wiener Lehrmeisters Joseph Haydn bemerkbar; anders als dieser stürmt er ohne vorherige Adagio-Einleitung vivace e con brio mitten ins musikalische Geschehen.
Jordi Savall, mit Gehhilfe auf dem Weg zum Pult, wo er die Konzertmeisterin Lina Tur Bonet mit Handkuss begrüßte, blieb in seiner Gestik gewohnt ruhig, steuerte mit ökonomisch klaren Armbewegungen den Klangaufbau, gab unerbittlich einen drängenden Puls vor, glättet in seiner dramatisch-strengen Rhythmusrhetorik auch wieder übereilte Reaktionen. So folgte auf das heiter einprägsame Hauptthema ein zärtlicher Ländler, wenig poliert und gerade deshalb so sympathisch; keckes Schnarren des Fagotts, in weises Lächeln der übrigen Holzbläser gebettet.
Nach dem genialen Überraschungsschluss kein langsamer Satz: wörtlich das Allegretto scherzando in tickender Monotonie, in der die Bläser den Takt klopften zur anmutigen Melodie der Geigen, die die Bässe behäbig aufnahmen. Und danach schmunzelnder Rückgriff auf ein Menuetto, das eigentlich zu dieser Zeit bereits dem Scherzo Platz gemacht hatte: Ländlerklänge voll biedermeierlichem Behagen, dem von rauen Horneinwürfen keine Ruhe gegönnt wurde. Eine wilde Jagd im finalen Allegro vivace, wo sie schneidig aufgepeitschte Violinpassagen vorführten, energisch von fünf Kontrabässen wie im Sechszylinder-Motor aufgeladen, die das innige Seitenthema geradezu überholten.
Ein ganz anderes Kaliber die Neunte Symphonie dann, bei der die Blechbläser noch aufgestockt wurden. 20 Bläser hinter 40 Streichern: dieser Klang elektrisierte in seiner Schärfe ungewöhnlich, hier gelang den Musizierenden um Jordi Savall der große, heftig strömende Bogen, indem er die verschiedenen Sätze des Werks unter Vermeidung besonderer Kunstpausen aneinander schweißte und in rekordverdächtigen 64 Minuten Spielzeit durchlebte.
Der erste Satz begann leise und konturlos wie aus grauem Chaos des Nichts, dann meißelte Savall markant das aus Dreiklangstönen wie gezackt niederstürzende Hauptthema. Es blieb bestimmend für den Satz, im Wechsel von Dunkel und Hell, wie im Kampf zwischen Leid und tröstlicher Freude.
Jäh setzte das Orchester mit dem eintaktigen Hauptmotiv des Molto vivace ein, das in seiner Wiederholung drohend anschwoll und in einem Fugato seinen Rhythmus festzurrte. Selbst im triohaften Mittelteil brachte die pastoral anmutende Melodie keine Ruhe. Gleichsam erdenfern ließ Savall das Adagio molto e cantabile aufblühen, war die Überzeugungskraft vibratoarmen Spiels der Streicher zu bewundern. Savall weckte würdevolle Kantabilität beider Hauptthemen, die gerade im Dialog von Horn und Holzbläsern oder friedlicher Eleganz der Blechbläser bestach.
Auch die Capella Nacional de Catalunya (Einstudierung Lluís Vilamajó) benötigte nur 36 Stimmen, um machtvoll und überzeugend (und ohne Noten!) die Hymne an Freude und Sternenzelt wie ein Bühnenbild aufzuspannen. Ein sehr homogenes Solistenquartett aus Lina Johnson, Olivia Vermeulen, Martin Platz und Manuel Walser korrespondierte zwischen Cherub vor Gott und den sich umschlingenden Millionen. Eine fulminante Steigerung zum Finale, Standing Ovations für eine Sternstunde stimmigen Musizierens.
*****
Über unsere Stern-Bewertung