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Bruckner unter Hochspannung: Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker in der Alten Oper

Von , 14 November 2024

Es galt als die absolute Sensation des diesjährigen Bruckner-Jahrs 2024: Kirill Petrenko wird als Chefdirigent seine erste Bruckner-Symphonie mit den Berliner Philharmonikern aufführen. Die Symphonie Nr. 5 in B-Dur steht hierbei im Fokus des Orchesters in diesem Herbst. Zunächst führten sie das Werk bei einer großangelegten Festival-Tournee u.a. in Salzburg und bei den BBC Proms in London auf, dann mehrmals zur Saisoneröffnung in der heimischen Philharmonie in Berlin und nun wird das Werk auf einer umfangreichen USA-Konzerttournee u.a. in New York und Boston präsentiert. Wie bereits in vorangegangenen Spielzeiten gastierten die Berliner Philharmoniker als inoffiziellen Tourauftakt am Vorabend ihres Transatlantikflugs in einem exklusiven Sonderkonzert in der Alten Oper Frankfurt.

Kirill Petrenko
© Stephan Rabold

Anton Bruckner, der die Aufführung seiner Fünften Symphonie nie erlebt hat, schuf bei ihrer Komposition hinsichtlich Struktur und Orchestrierung neue Maßstäbe. Die ersten drei Sätze fungieren hierbei als endlos fragmentierte Einleitung, die erst durch das Finale ineinandergreifen und zusammengesetzt werden. Diese „Choral-Symphonie“, ein Spitzname, der auf das majestätische Choralthema im Finale zurückzuführen ist, wird nicht grundlos als architektonisches Meisterwerk betrachtet – eine Kathedrale unter den Symphonien.

Doch bereits in den ersten Takten dieses Abends war klar: Petrenko, als musikalischer Baumeister, scheint nicht am langsamen, abgerundeten Aufbau eines sakralen, spirituellen Werks interessiert zu sein. Vielmehr dekonstruierte er die Symphonie wieder in seine Einzelteile. Dieser Bruckner stand von Anfang an unter absoluter Hochspannung und seine immanente Steigerungsfähigkeit wurde sofort ausgeschöpft, sodass sich hinter jeder Phrase ein eigener, neuer Klimax verbarg.

Kirill Petrenko dirigiert die Berliner Philharmoniker
© Stephan Rabold

Nach nur 70 Minuten (andere benötigen dafür 90 Minuten) hatte es Petrenko geschafft, eine Bruckner-Interpretation zu präsentieren, wie man sie nur selten hört. Mit äußert schnellen Tempi, überaus analytisch und dank der hohen Virtuosität der Berliner Philharmoniker jedes Detail hörbar machend, vermochte er es, die kontrapunktische Symphonik über sämtliche Instrumentengruppen gleichermaßen ideale auszutarieren. Die schlagartigen Dynamikänderungen von absoluter Stille ins markerschütternde Fortissimo, wie sie nur die wenigsten Spitzenorchester nachahmen können, nutzte er wiederholt als bezeichnendes Stilmittel. Das Spiel der Berliner Philharmoniker war sensationell: In nie geahnter Präzision, hochvirtuos, mit messerscharf und glasklarem Klang steigerten sie die Spannung Petrenkos Interpretation ins Unermessliche.

Man kann Petrenko schwerlich vorwerfen, dass er nicht der metaphysischen Spiritualität eines Sergiu Celibidaches verfallen ist. Doch trotz dieser konträren Interpretation wusste der Dirigent zu imponieren. Das Choralfinale erstrahlte in donnerndem wie funkelnd-glänzendem Fortissimo. Als Glaubensbekenntnis des Komponisten wird Bruckners Fünfte oft bezeichnet, doch Petrenko schien in dieser Aufführung vom Glauben abgefallen zu sein. Denn sein besinnungsloses und ohne jegliches Innehaltens auskommendes Spiel ließ den in rekordverdächtiger Aufführungsdauer zurückgelegten Pilgerweg zuweilen etwas seelenlos, oder im Falle Bruckners – die sakrale, spirituelle Komponente seiner Symphonie missend – gar etwas geistlos wirken. So entstand in dieser Aufführung keine barocke Kathedrale, die durch Form, Struktur und Schönheit auffällt – stattdessen liegt der Vergleich mit einem schweren, erschlagenden und doch recht profanen Brutalismus-Bau nahe.

****1
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“hinter jeder Phrase verbarg sich ein eigener, neuer Klimax”
Rezensierte Veranstaltung: Alte Oper: Großer Saal, Frankfurt am Main, am 12 November 2024
Bruckner, Symphonie Nr. 5 in B-Dur, WAB105
Berliner Philharmoniker
Kirill Petrenko, Musikalische Leitung
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