Es ist eine Geschichte für Wagner-Neulinge, die Dmitri Tcherniakov da inszeniert hat, die beim Fliegenden Holländer nicht Bilder von sturmzerzausten Seemännern oder tosenden Meeresfluten vor ihrem geistigen Auge haben. Dann funktioniert Tcherniakovs Neudeutung überraschend gut und oft durchaus stimmig; und wenn man den Text verfolgt, wird von Wagners originalem Buch auch nichts weggelassen oder verändert – abgesehen von den meisten seiner Regie-Anweisungen natürlich. Aber schon bei der Münchner Neuinszenierung von Webers Freischütz hatte der gefragte russische Regisseur bekannt, nicht mit dem mitteleuropäisch-romantischen Sagenbild aufgewachsen zu sein. Trotzdem hatte seine Projektion von Webers Wolfsschlucht, von Freikugeln und heftig umworbener Försterstochter in ein städtisches Büromilieu erstaunlich gut funktioniert.
In der Neuproduktion von Wagners Fliegendem Holländer bei den Bayreuther Festspielen 2021 spinnt Tcherniakov, erstmals mit Inszenierung und Bühne am Grünen Hügel präsent, einen eigenen Gedanken weiter: Die Mär vom verfluchten Seefahrer, der mit Getreuen und seinem Schiff nur alle sieben Jahre anlanden darf, um eine bedingungslos liebende Frau zur Erlösung zu finden, bekommt eine ebenso dramatische Vorgeschichte, „den sonderbaren, immer wiederkehrenden Traum des H.“, wie es auf den Gazevorhang projiziert wird. Daland, umtriebiger und gewinnsüchtiger Schiffer im norwegischen Hafenstädtchen, habe vor langem eine Affäre mit der Mutter des Holländers gehabt, die der Sohn verstört beobachtet hatte. Als seine Mutter wegen der Liebelei von den Nachbarn gemieden und verächtlich gemacht wurde, hatte sie sich vor den Augen des Jungen erhängt – im Livestream der Premierenübertragung noch gezeigt, jedoch fehlte die Szene bei der besuchten Vorstellung. Rache wird zur zweiten Triebfeder der Rückkehr des Holländers und gipfelt am Ende in einem teuflischen Tableau.
Der erste Akt beginnt in der Kneipe eines Hafenstädtchen, das auch Heimat des Holländers ist. Keine schmutzige Hafenspelunke, sondern mit blauen Fliesen, Chromregalen und noblen Gin- und Rumlabels. Umgeben von schmucklosen Klinkerhäuschen, die während des Stücks wie von Roboterhand gesteuert immer wieder verfahren und neu aufgestellt werden. Daland und seine Matrosen, die der vom Steuermann später herbeigerufene Südwind offenbar schon an Land gebracht hatte, feiern zünftig, lauschen dessen Ballade über „Gewitter und Sturm aus fernem Meer” (Attilo Glaser mit geschmeidigem Tenor und amüsantem Spiel). Nur ein Gast beobachtet das Treiben still, wie versteinert und doch abschätzend: der Holländer. Mit einer Lokalrunde zieht er die Aufmerksamkeit auf sich, öffnet sein Inneres: „Die Frist ist um”. Ein Mensch zeigt sich da, mit brennenden Gefühlen, nicht seelenlos. Und doch ein nicht sterben könnender Untoter, der die seelenverwandt opferwillige Frau noch nicht gefunden, oder sie bei falscher Liebe mit in seinen Abgrund gerissen hat. Mit viel Gold ködert er Dalands allzu schnelles Versprechen, ihm seine Tochter Senta zu vermählen.