Es war eine riskante Entscheidung des Salzburger Festspiel-Intendanten Markus Hinterhäuser, für die Neuproduktion von Maria Stuarda jemanden zu verpflichten, der vorher gerade mal zwei Musiktheater-Stücke inszeniert hatte. Der 56 Jahre alte deutsche Regisseur Ulrich Rasche kommt nämlich vom Sprechtheater und hat sich seine Meriten in dieser Sparte verdient. Doch der Blick von außen wirkt auf die künstlerische Arbeit oft sehr befruchtend. Tatsächlich stellt Rasche im Großen Festspielhaus etwas auf die Bühne, das sich von herkömmlichen Operninszenierungen radikal unterscheidet.
Das Stück handelt – in freier Anlehnung an die historischen Ereignisse – von der tödlichen Rivalität der abgesetzten schottischen Königin Mary Stuart und der regierenden englischen Königin Elizabeth I, die mit der Enthauptung Marys endet. Doch Rasche interessiert sich weder für historische Ereignisse noch für Royals. Es fehlen jegliche zeitlichen, örtlichen oder sozialen Wegmarken, es gibt auch keine Requisiten. Also keine königlichen Gewänder, keine Kronen, keine Prunksäle, kein Jagdschloss und nicht einmal ein Scharfrichter zum Schluss. Positiv formuliert: es herrscht ein hoher Abstraktionsgrad, der gelegentlich an die Regiearbeiten des jüngst verstorbenen amerikanischen Regisseurs Robert Wilson erinnert.
Der geniale Einfall des Regisseurs, der auch für die Bühne verantwortlich zeichnet, sind zwei kreisförmige Plattformen, die sich ständig drehen und gleichzeitig ihre Position auf der Bühne immer wieder verändern. Auf der einen Plattform herrscht Elisabetta, auf der anderen Maria. Auch die Nebenrollen sind dergestalt aufgeteilt: Im Kreis von Maria befinden sich auch ihr Vertrauter Talbot und die Amme Anna, in jenem von Elisabetta Lord Cecil, der die Hinrichtung Marias fordert. Einzig Graf Leicester, um dessen Gunst beide Königinnen werben, agiert bald auf der einen, bald auf der anderen Plattform. Eine dritte Scheibe fungiert als eine Art Dach. Ihre wechselnden Farben (Licht: Marco Giusti) charakterisieren die unterschiedlichen Stimmungslagen des Geschehens, und bewegte Bilder (Video: Florian Hetz) dienen als Projektionsflächen für die Protagonisten.
Die Botschaft ist klar: Die Figuren sind nicht selbstbestimmte Wesen, sondern Gefangene in einem mechanisch ablaufenden Getriebe, das nicht beeinflusst werden kann. Wenn man diese Sicht auf gegenwärtig Regierende überträgt, wirkt sie extrem deprimierend. Die Ohnmacht der beiden Königinnen akzentuiert Rasche zusätzlich noch, indem er sie als Abhängige männlicher Drahtzieher darstellt. Gemeint sind nicht nur die drei männlichen Nebenfiguren, sondern eine während des ganzen Stücks präsente Pantomimengruppe. Die Tänzer der Salzburg Experimental Academy of Dance repräsentieren einen unheimlichen anonymen Machtapparat, der die (Bewegungs)-Freiheit der Königinnen behindert und bedroht. Auf der ästhetischen Ebene sorgt die Tänzergruppe (Choreographie: Paul Blackman), die sich ständig im Takt der Musik bewegt, für eindringliche Bilder.
In ständiger Bewegung auf den rotierenden Scheiben sind aber auch die beiden Primadonnen. Und die absolvieren dieses Kunststück in bewundernswerter Weise. Darstellerinnen, die bei so viel Akrobatik auch noch blendend singen und spielen können, muss man erst einmal finden. Mit Lisette Oropesa in der Rolle der Maria und Kate Lindsey als Elisabetta sind tatsächlich zwei Stars der Szene gefunden worden, die beiden Anforderungen gerecht werden. Als Charaktere könnten sie unterschiedlicher nicht sein, was sowohl zum Stück als auch zur Farbsymbolik des Regieteams (Kostüme: Sara Schwartz) passt. Schwarz-weiß-Malerei im wörtlichen wie im übertragenen Sinn: Maria im weißen, Elisabetta im schwarzen Kleid.
Oropesa, ausgestattet mit einem fabelhaft leichten Koloratursopran, stellt die schottische Königin als emotionale und warmherzige Träumerin dar, die am Schluss sogar ihrer Mörderin verzeiht. Lindsey, die für ihre Hosenrollen bekannt ist, gibt die englische Königin als kühle Realistin, die ihre widerstrebenden Gefühle immer wieder unterdrückt. Ihr Mezzosopran hört sich im Vergleich zu Oropesa kerniger und engmensurierter und in den Tiefen erstaunlich voluminös an. Zum packenden Erlebnis wird bei dieser Ausgangslage die Begegnung zwischen Maria und Elisabetta im zweiten Aufzug. Der Leicester von Bekhzod Davronov erscheint als etwas abgehobener, träumerischer Lover, der Talbot von Aleksei Kulagin als sympathische Vaterfigur und der Lord Cecil von Thomas Lehman als berechnender Strippenzieher.
Die musikalische Leitung obliegt Antonello Manacorda, der damit seine erste Opernproduktion bei den Salzburger Festspielen dirigiert. Als Orchester steht ihm nicht – wie bei etlichen Sommerfestivals – ein zusammengewürfeltes Festivalorchester zur Verfügung, sondern kein geringerer Klangkörper als die Wiener Philharmoniker, die hier jedes Jahr eine Residenz übernehmen. Manacorda dirigiert sehr präzise, verleiht den Sängern auf der Bühne Sicherheit und koordiniert das vokale und das instrumentale Geschehen bestens. Donizettis Belcantostil scheint er verinnerlicht zu haben, was insbesondere in einer guten Mixtur zwischen dramatischem Vorwärtsdrängen und lyrischem Verweilen zu hören ist.