Der 1975 in Irkutsk geborene Denis Matsuev braucht nicht vorgestellt zu werden, er ist auf Festivals und in den Konzertsälen der Welt ein häufig gesehener Gast, seine schier grenzenlosen virtuosen Fähigkeiten sind allseits bekannt (es gibt wohl nur wenige Pianisten, die es wagen würden, am gleichen Abend das zweite und das dritte Klavierkonzert von Rachmaninow nacheinander aufzuführen!). Selbstredend präsentierte er im Rezital in der Zürcher Tonhalle mit den Kompositionen von Liszt und Rachmaninow zwei Eckpfeiler des virtuosen Repertoires, zum Glück kombiniert mit Werken, die auch die lyrische Seite des Künstlers zum Vorschein brachten.
Den ersten Teil des Programms bildete Tschaikowskys Zyklus Die Jahreszeiten. Der Titel dieser Sammlung erinnert vielleicht an Vivaldis Le quattro Stagioni (in der Tat ist auch hier jedem Teil ein Motto und ein Gedicht eines russischen Lyrikers vorangestellt), allerdings nicht in vier Segmenten bzw. Konzerten wie bei Vivaldi, sondern in der Form eines kurzen Klavierstücks für jeden Monat, meist in zyklischer A-B-A Form. Im Vergleich mit anderen Kompositionen des spätromantischen Repertoires mag hier (je nach Interpretation) vieles harmlos, wenn nicht gar süßlich oder trivial erscheinen. Matsuev verstand es meisterhaft, dieser Gefahr aus dem Weg zu gehen: er wählte meist relativ flüssige Tempi, seine Interpretation erschien unprätentiös, unaufgeregt, nie überladen mit Emotionen, dabei aber keineswegs distanziert. Er spielte lyrisch, oft introvertiert, nachdenklich, stimmungsvoll und versunken in den beschaulichen Teilen, mit einem sorgfältig bemessenen Rubato, rasche Einschübe gerieten zur spielerischen Arabeske.
Die schnelleren Passagen blieben ebenso spielerisch, unangestrengt, ohne Pathos, nie hart, die Dynamik war fast durchweg zurückhaltend, sehr sorgfältig und differenziert: das energico im Juni war eher mf oder p statt f. Mir gefiel auch das Aufblühen in den Mittelteilen des Mai (Les nuits de mai), der schwungvolle Juli (Chant du faucheur), der humorvoll-virtuose August (La moisson) und die sehr bildliche Darstellung der Jagd im September. Überzeugend auch der wehmütige Herbstgesang des Oktober, agogisch differenziert, sich dazwischen sacht entfaltend, zuletzt wundervoll auslaufend in ein beinahe unhörbares pppp. Die Troïka des November war triumphal, dennoch nicht laut, sehr rasch, trotzdem unprätentiös.
Man könnte bemängeln, dass in schnellen Segmenten Details in der Artikulation überspielt wurden, dass Staccati manchmal kaum als solche zu erkennen waren, aber diese Musik ist nicht der Platz für virtuosen Exhibitionismus. Im Dezember (Noël) war das „molto ritardando“ jeweils nur marginal ausgeführt, dafür blieb der musikalische Fluss erhalten, kam im ganzen Zyklus nie Langweile auf. Für mich war dieser Teil des Programms der Höhepunkt des Abends, in den ich auch die Méditation (zwischen den virtuosen Werken des zweiten Teils) des gleichen Komponisten einschließe. Für diesen gilt das oben Gesagte gleichermaßen, außer dass der virtuose Mittelteil an Intensität und Lautstärke (in Komposition und Interpretation) alles in den Jahreszeiten übertraf.