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Klopfen, Knarzen und Koordination: brillantes Orchesterspiel bei musica viva in München

Von , 30 September 2024

Mit dem Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música begrüßte man beim diesjährigen räsonanz-Stifterkonzert der Ernst von Siemens Musikstiftung, zugleich einem Abend der musica viva-Reihe des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, einen traditionsreichen Klangkörper aus der nördlichsten Stadt Portugals. Unter Leitung seines Chefdirigenten Stefan Blunier, der in Porto auch eine intensive Pflege zeitgenössischer Musik betreibt, standen zwei Komponisten auf dem Programm, die für bedeutende künstlerische Ausdrucksweisen der Werke des 20. Jahrhunderts stehen.

Stefan Blunier
© BR | Astrid Ackermann

Eine besondere Beziehung verbindet das Orchester mit dem Portugiesen Emmanuel Nunes, der, 2012 verstorben, als Zeitzeuge und Begleiter der portugiesischen „Nelkenrevolution“ gilt, die vor genau 50 Jahren den grundlegenden Demokratisierungsprozess des Staats eröffnete. Musik von Helmut Lachenmann, 89-jährig noch immer als Komponist und Lehrer unterwegs, steht auch im Mittelpunkt der diesjährigen musica viva-Saison des Bayerischen Rundfunks in München. 50-jähriges Jubiläum feiert dazu das Arditti-Quartett, das als Solistenensemble im Konzert auftrat.

Beide Werke des Abends stammen aus der Dekade nach 1970. Emmanuel Nunes hatte die Darmstädter Ferienkurse besucht, einen Treffpunkt der damaligen Avantgarde, bei Karlheinz Stockhausen studiert. Dessen Affinität zu Mischklängen aus instrumentalen und elektronischen Komponenten beeinflusste hörbar auch Nunes’ Ruf für Orchester und Tonband. Auf Bluniers Pult liegt eine große Partitur, zugleich zeigt ein Bildschirm hinter dem Pult die ablaufende Zeit an, in der elektronische Klänge hinzugemischt werden, von einem Tonband oder einer computergesteuerten Quelle. In bestimmten Abschnitten der Partitur wird die Uhr dagegen angehalten; dann leitete Blunier als Koordinator den Ablauf des Musizierens.

„Ruf“ kann dabei ganz unterschiedliche Vorgänge symbolisieren: im ersten Teil des Werks entwickeln sich aus einem anschwellenden Ton markante Rhythmuszellen in den Holz- und Blechbläsern, verstärkt durch Impulse von Schlagwerk, Klavier und Celesta. Auch wenn die zugespielten Signale, Sinuswellen oder auf- und abschwellendes Brodeln regelmäßiger erschienen, ergab sich doch ein eher unstrukturierter Mischklang, aus dem, wie bei rauer See, kleine Fontänen wie Rufe emporschnellten. Hier leisteten die Musiker in bewundernswerter Konzentration ein vorbildliche Ziselieren des dicht gewirkten Orchestersatzes, zu einem langsam sich ergießenden Tonfluss. Melodische Abschnitte formten sich im zweiten Teil, wenn lange Haltetöne zu meditativen Momenten wurden, Zitate aus Barock und Romantik bis zu Mahlers Lied von der Erde auf die Wurzeln in der Musikgeschichte weisen. Ein lang zelebriertes Verklingen, mit letzten leisen Rufen von Harfe und Schlagzeug, schloss das Fenster zu einem raffinierten Spiel aus Zeit und Raum.

Stefan Blunier mit dem Arditti Quartett und Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música
© BR | Astrid Ackermann

Ohne Elektronik, aber noch vertrackter und provozierender in der notwendigen Prägnanz rhythmischer Minizellen der Instrumentalstimmen, hat Helmut Lachenmann seine Tanzsuite mit Deutschlandlied, Musik für Orchester mit Streichquartett, angelegt. Zwischen hintergründigem Ernst und verunsicherndem Spaß am Verstecken bekannter traditioneller Melodien hat er ein großes Musikmaschinenlabor eingerichtet, in dem alle Klischees und Formeln aufgelöst und in neuer Verbindung zusammengesetzt werden. Haydns Kaiserquartett-Zitat steht im Mittelpunkt der Arbeit; in der Coda der wiederum an Mahler erinnernden fünfteiligen Suite aus Tänzen wie Walzer, Capriccio oder Polka kommen in augenzwinkerndem Humor das Wiegenlied Schlaf, Kindlein, schlaf oder das Wiener Volkslied O du lieber Augustin hinzu. Keine Überraschung, dass diese für den ungeübten Hörer nicht sofort identifizierbar sind.

Mit Kratzen, Knattern und Klopfen gab das Arditti Quartet auf gewohnt hohem Niveau den Anfang; man hörte, dass es mit der pointillistischen Technik Lachenmannscher Kammermusik bestens vertraut ist und anregend elementarste Klangsignale immer wieder kontrastreich umsetzen kann. Mit Reiben, Rauschen und Rumpeln mischten sich die groß besetzten Streicher ein; geheimnisvolle Glissandi durchschwirrten das Klanggewebe. Singuläre Klangereignisse mutierten zur Melange instrumentaler Möglichkeiten, das Becken wurde mit dem Geigenbogen angestrichen; Gigue und Tarantella trugen die Energie zum akzentuiert wilden Tanzausbruch von zwei Dutzend Bläsern in sich.

In den folgenden Ariae reduzierte Blunier die Intensität des Orchesters bis zum unteren Rand der Hörbarkeit, geräuschhaft subtil wie in feinen gläsernen Fäden. Diesen Exzess im kompositorischen Mikrobereich baute Blunier exzellent auf, wieder in minutiöser Beachtung der detailgenauen Partitur; seismografisch agierten die vier Arditti-Solisten. Im tiefen Klangraum des Klaviers, später auch im Schlagzeug blitzten schließlich scheibenweise Liedfragmente auf. Bei träumerischem Trommeltakt kam das Werk zur finalen Ruhe. Kontrastreich und spannungsvoll: die Interpreten wurden ebenso begeistert gefeiert wie die Schlüsselwerke dieser radikalen Klang-Erfinder.

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“singuläre Klangereignisse mutierten zur Melange instrumentaler Möglichkeiten”
Rezensierte Veranstaltung: Prinzregententheater, München, am 28 September 2024
Nunes, Ruf
Lachenmann, Tanzsuite mit Deutschlandlied
Zoro Babel, Klangregie
Arditti String Quartet
Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música
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