Johann Sebastian Bach hat das Hammerklavier nicht gekannt und konnte deshalb die klanglichen und artikulatorischen Möglichkeiten des modernen Klaviers nicht antizipieren. Für Puristen haben Pianisten deshalb keinerlei Berechtigung, Bach auf nicht-authentischen Instrumenten öffentlich aufzuführen. Diese Position geht aber wohl zu weit, wenn Künstler sich ernsthaft mit der Verzierungs- und Artikulationstechnik des Clavierspiels der Barockzeit auseinandergesetzt haben.
So widmete Yulianna Avdeeva die erste Konzerthälfte in Aarau nicht Chopin, sondern Bach. Mit der dritten von Bachs Toccaten für Clavier stellte sich die Pianistin allerdings einer speziellen Herausforderung, denn der Komponist versucht sich hier im Stylus phantasticus, dem er bei Buxtehude in Lübeck begegnet ist. Diesen Stil auf dem Flügel zu reproduzieren ist schwierig, ist doch schon der Klang des Klaviers zu gezähmt, entbehrt jeglicher Schärfe; das Instrument ist auf Ausgleich und Differenzierung ausgelegt. Bei Cembalo und Orgel sind die dynamischen Möglichkeiten eingeschränkt, dafür ist die Artikulation pointierter.
Bei Yulianna Avdeeva klang denn der einleitende, freie Toccatenteil relativ flüssig, trotz Agogik eher zahm. Das Allegro war spielerisch, die akkordischen Takte neckisch hervorgehoben, speziell wo Bach sich in entfernteren Tonarten bewegt Das Adagio wiederum ist auf dem Klavier schwierig zu realisieren; die äußeren Segmente waren sehr verhalten und weich, „Toccata-rebellisch“ allenfalls in den Tremoli und im anschwellenden Mittelteil. Auch die Fuge begann verhalten, sehr pianistisch insgesamt, und rückte erst mit dem toccatenhaften Einschub in die Nähe des Komponisten. Spielerisch-barock, fast verspielt schließlich die abschließende Fuge.
Die Französische Ouvertüre stellt ganz andere An- und Herausforderungen: Während in der Toccata der Notentext weitestgehend ausformuliert ist, sind im französischen Stil vor allem Kenntnisse im Umgang mit Verzierungen gefragt, wobei Yulianna Avdeeva sehr viel Stilbewusstsein und Feingefühl bewies. Ihre Verzierungen klangen barock-natürlich, ausgewogen; tendenziell ließ sie im jeweils ersten Durchgang vereinzelte Verzierungen weg, fügte dafür in den Wiederholungen selektiv eigene Ornamente hinzu. Die Dynamik war erfreulich moderat, folgte der von Bach vorgegebenen Stufendynamik des zweimanualigen Cembalos. Ausgezeichnet fand ich, dass das Haltepedal allenfalls zur Verstärkung von Resonanzen, keinesfalls aber zum Binden verwendet wurde. Die Fuge des ersten Satzes artikulierte die Pianistin sehr sorgfältig; einzige pianistische „Eskapaden“ waren die weiche Gestaltung des Comes sowie gelegentliche, witzig aufblitzende Synkopen.
Zu den eher pianistischen Sätzen zähle ich die Courante (eher weich, verhalten), die Sarabande (auch eher weich, kaum als Tanzrhythmus zu erkennen) und die Sätze Passepied II und Bourrée II. In der Courante gefiel mir die sprechende, ja erzählende Artikulation und Phrasierung. Weiter schätzte ich das diskrete agogische Spiel in vielen Sätzen (speziell im Echo), die ausgeprägte, manchmal kecke Artikulation (Passepied I, Bourrée I). Alles in allem war es eine Darbietung ohne unnötige Extravaganzen, die von seriöser Vorbereitung und von ernsthafter Auseinandersetzung mit dem Werk und mit Barockmusik zeugt: Chapeau!