Ein glanzvoller Ausbildungsabschluss, wie ihn der 30-jährige russisch-deutsche Pianist Igor Levit hingelegt hat, ist für den Erfolg auf dem Podium beinahe Voraussetzung. Wenn es dem Künstler zudem gelingt, eine geeignete Nische ausfindig zu machen, kann das durchaus zum Hebel für einen Karrierestart werden. Diese Nische darf nicht allzu exotisch sein, sollte aber auch nicht von zu vielen Mitkonkurrenten „beackert" werden.
Igor Levit traute sich als erstes gleich mitten in die Höhle des Löwen, veröffentlichte Aufnahmen der Bach-Partiten und der späten Beethoven-Klaviersonaten, mit denen er auch die Konzertpodien in seinen Debutauftritten bereiste. Natürlich arbeitete er daneben an der Erweiterung seines Repertoires. Dann aber hat er offenbar die „kleinteilige Großform" für sich entdeckt, hat Bachs Goldberg-Variationen, Beethovens Diabelli-Variationen, sowie Rzewskis ähnlich gelagerten People United-Variationenzyklus aufgenommen und damit Konzerte veranstaltet. Beethovens und Rzewskis Variationenzyklen sind klar für den Konzertsaal gedacht, Bach schrieb seine Variationen kaum für integrale, öffentliche Aufführungen. Dennoch ist diesen Zyklen ein übergreifendes Konzept eingeschrieben: eine konsequente Entwicklung hin zu technischer, polyphoner oder harmonischer Komplexität.
Mit den 24 Präludien und Fugen von Schostakowitsch geht Levit über die „Großform" hinaus. Diese basieren auf dem Vorbild von Bachs zwei Bänden des „Wohltemperierten Claviers". Deren erster Band mag gelegentlich im Konzertsaal präsentiert werden, aber eine Gesamtaufführung ist bei beiden weder vorgesehen noch zwingend. Schostakowitsch hat 1950/51 seine eigenen 24 Präludien und Fugen veröffentlicht – allerdings nicht wie Bach chromatisch, sondern im Quintenzirkel fortschreitend. Hier ist eine integrale Aufführung in extremis zwar machbar, aber durchaus nicht die Regel: auf CD existieren Gesamtaufnahmen, aber oft treffen Pianisten eine Auswahl oder spielen gar nur ein einzelnes Präludium/Fuge-Paar. Der Grund dafür ist keineswegs nur, dass eine Gesamtaufführung von der Dauer her knapp in einen Abend gepackt werden kann, sondern ebenso, dass vor allem die Fugen sowohl physisch, technisch und intellektuell enorme Anforderungen stellen. Anders als Bach beschränkt Schostakowitsch die freien Episoden auf ein Minimum: die zumeist drei- oder vierstimmige Polyphonie ist fast ausschließlich thematisch. Das bedeutet, dass der Pianist über ausgezeichnete dynamische Kontrolle verfügen muss, nicht nur damit der Satz durchhörbar bleibt, sondern auch Themen(-köpfe) jederzeit als solche erkennbar sind.