„Traumata haben eine lange Lebensdauer.“ Mit diesem Satz bringt Lothar das psychische Dilemma seines Freundes Nathanael auf den Punkt. Der dreht nämlich völlig durch, dem entgleitet’s komplett. Einerseits beschreitet er an der Seite seiner klugen und emanzipierten Freundin Clara die Gegenwart, andererseits aber holt ihn seine düstere, unheimliche Vergangenheit immer wieder ein. Seitdem Nathanaels Vater, ein Leichenbestatter, und dessen zwielichtiger Freund Coppelius bei einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen sind, verfolgen Nathanael Alpträume und Wahnvorstellungen. Diffuse Schuldgefühle plagen ihn. Andrea Lorenzo Scartazzinis Oper Der Sandmann zieht den Zuschauer erbarmungslos mit hinein in den wirren Irrsinn ihres Protagonisten. Denn auch wir können – wie Nathanael – Alptraum und Realität mitunter kaum unterscheiden.
Nathanael ist Schriftsteller und arbeitet an seinem autobiografischen Roman „Der Sandmann“. Das zumindest behauptet er und lässt sich vom vorzüglichen, reichlich geforderten Chor der Frankfurter Oper mit koketten Schmeicheleien feiern. Erst am Ende erfahren wir: Der Roman existiert überhaupt nicht. Ebenso wenig wie Nathanaels Vater und dessen Freund Coppelius, die Nathanaels Denken und Vorstellungen beherrschen und entsprechend häufig als sarkastische Kommentatoren, bei Bedarf auch mal als schießwütige Mörder in der Oper auftreten.
Der Sandmann ist keine Literaturoper, Thomas Jonigks Libretto keine Nacherzählung des populärsten Nachtstücks von E.T.A. Hoffmann. Scartazzini (*1971) und Jonigk (*1966) konstruieren in ihrer eigenen Version frei nach den Hoffmann’schen Motiven einen zeitlosen Teufelskreis aus Schuld und negativer Selbstbestätigung als Grundkonflikt des Geschehens. Dabei ergänzt sich das Schöpferduo hervorragend: Jonigks Libretto fasst den mystischen Psychothriller in eine für die Opernbühne herrlich unangemessen anmutende, schlicht-moderne Sprache voll Plattitüden und ironischer Brechungen. Scartazzini wiederum weiß dieser Handlungsoper eine theatralisch-effektvolle Tonsprache zu geben.
Schon in den ersten Takten erzeugen Akkordeon, Windmaschine, pochende Orchesterschläge und Geisterchor eine gespenstische, unwirkliche Atmosphäre. Einen musikalisch-lyrischen Grundcharakter verliert Scartazzinis Musik nie aus den Augen und differenziert doch genau: Flirrend, geheimnisvoll und unfassbar schwebt Nathanaels Wahnwelt komplex und lockend über der robust, mitunter läppisch-naiv klingenden realen Welt. Auch extreme Lautstärken weiß der Rihm-Schüler Scartazzini wohl zu dosieren und bewusst einzusetzen. Über weite Strecken ist die Instrumentation so durchsichtig gehalten, dass die deutschen Übertitel überflüssig scheinen.
In den Gesangspartien spiegeln sich die Charaktere der Figuren: Die Automatenpuppe Clarissa, eine Wunsch- und Wahngestalt Nathanaels, singt fast nur mechanisch springende Oktaven. Ihrem menschlichen Äquivalent Clara ist Musik von ausgeprägt melodischem Duktus zugeordnet. Die schwedische Sopranistin Agneta Eichenholz meistert die konzentrations- und kräftezehrende Doppelrolle Clara/Clarissa bravurös. Ihr klarer, schnörkelloser Sopran weiß sowohl die starke, pragmatische Clara als auch die herz- und willenlose Clarissa überzeugend in Szene zu setzen. Eichenholz sang die Partie bereit bei der Uraufführung der Oper in Basel 2012. Daniel Miroslaw stellte ihr als treuer Freund Lothar einen unaufgeregten, verlässlichen Bass zur Seite.