Das Belcea Quartet ist nicht nur ein großartiges Ensemble, sondern mit der Gattungsgeschichte so gut vertraut, dass schon ihre Programmgestaltungen kleine Kunstwerke sind. Bei ihrem zweiten Abend in dieser Spielzeit im Pierre Boulez Saal wollten sie möglicherweise zeigen, auf welche unterschiedliche Weise Kreise sich schließen – oder eben nicht.
Am Beginn ihres Konzerts stand mit Schuberts „Quartettsatz” der wohl erste Sonatensatz der Kompositionsgeschichte, der mit genau den Takten schließt, mit denen er angefangen hat. Fast unhörbar begann die erste Violine mit ihrem Tremolo, das nun alles Mögliche, nur kein Thema ist. Das Belcea-Quartett zog das Publikum in Kreise, aus denen der Komponist selbst sich nicht befreien konnte; denn er komponierte die folgenden Sätze nicht mehr, um ein viersätziges Quartett vorzulegen.
Ist Schubert 1820 noch auf der Suche, so zieht Britten in seinem Dritten Streichquartett 1975 am Ende seines Lebens die Summe seines instrumentalen Schaffens. Er ordnet dessen fünf Sätze axialsymmetrisch an, so dass zwischen zweitem und viertem sowie dem Eröffnungs- und Finalsatz Korrespondenzen bestehen. Eingeschrieben ist dieser Bogenform die Suche nach verloren gegangener tonaler und formaler Schönheit, die im ersten Satz beginnt und im letzten endet. Im ersten Satz, Duets überschrieben, arbeitet Britten mit der großen Sekunde, die Axel Schacher und Krzysztof Chorzelski einander zuwarfen, während ihre Stimmen dabei einander durchkreuzten. Später spielten Corina Belcea und Antoine Lederlin im Duett miteinander. Zudem ließen sie zu Beginn bereits jenes Motiv anklingen, das später die Grundlage der Passacaglia bildet. Im zweiten Satz gibt ein zunächst auf- dann absteigendes, ständig präsent bleibendes Motiv den Impuls für die wilden Läufe in den anderen Stimmen. Die rhapsodische Kantilene der ersten Violine im dritten Satz, Solo, komponierte Britten für Norbert Brainin, den Primarius des Amadeus-Quartetts. Doch Corina Belcea spielte die hohe, weiträumig fließende Melodie mit Sicherheit nicht weniger hinreißend als dieser. In ihrem kleinen Violinkonzert wurde sie stets behutsam, immer von einem anderen Instrument begleitet. Fahle Flageolettöne beenden den Satz. Die schrille Burlesque im vierten Satz verlangt vom Quartett Wildheit in der Spielweise und abstruse Wechsel der Taktarten. Das alles erfüllte das Belcea Quartet mit großer Sorgfalt und Raffinesse. Krzysztof Chorzelski kostete die Klangwirkungen im Trio aus, wenn er schnelle Arpeggien zwischen Steg und Saitenhalter zu spielen hatte. Doch am ergreifendsten gelang der letzte Satz Recitative and Passacaglia. Britten gab der Passacaglia noch den Titel La Serenissima, die Heiterste, bei. Und heiter spielten die vier Musiker/innen diesen Schlusssatz auch – im Wissen darum, dass ihre Suche nach dem auf immer verlorenen Wohlklang vergebens ist. Wer kann die Geige am Ende so aussingen lassen wie Corina Belcea! Das Verebben in eine milde Dissonanz, die als wohltönender Missklang dann unaufgelöst bleibt und sich in einem einzelnen Ton verliert, lässt sich mit Worten kaum beschreiben. Das Quartett verlischt mit einer unbeantworteten Frage. Stille herrscht im Saal.