Wenn ich mich für eine Rezension vorbereiten möchte und ich kann ein Werk in meiner CD-Sammlung nicht finden, dann bietet das Internet fast immer Ersatz. Selbst weitgehend unbekannte Kompositionen kann ich mir dort anhören, wann immer ich will. Fast alle Aufnahmen haben jedoch so weitgehende Mängel, dass ich mir bisher nicht vorstellen konnte, dass ich mich jemals entspannt auf ein Online-Konzert einlassen könnte. Seit einigen Wochen sind nun aber die Niederländischen Konzertsäle geschlossen und mein Bedürfnis nach klassischer Musik lässt mir keine andere Wahl als auf das ständig wachsende Angebot von Streams zurückzugreifen. Zu meiner großen Überraschung sind diese in Echtzeit übertragenen Konzerte nicht nur qualitativ gut, sondern dank interessanter Kameraregie und Interviews mit den Künstlern ein durchaus packender Ersatz.
Dies gilt in besonderem Maße für die Konzerte des Philadelphia Orchestras. „Unsere Welt: jetzt” heißt das Saisonsmotto dieses Orchesters aus Pennsylvania, jenem amerikanischen Bundesstaat, dessen knapper Wahlausgang bei den dortigen Präsidentschaftswahlen gerade noch für reichlich Spannung gesorgt hatte. Yannick Nézet-Séguin ist dort seit 2012 Chefdirigent. Er ist auch einer der Lehrer der kolumbianischen Dirigentin Lina Gonzalez-Granados, die seit dem letzten Jahr bei seinem Orchester als Stipendiatin unter Vertrag steht. Unter ihrem warmen und immer engagierten Dirigat konnten die hervorragenden Bläsersolisten bei der Bläserserenade von Antonín Dvořák vollauf glänzen. Allen voran der Oboist Philippe Tondre, der bei seinem ersten Konzert als Solooboist in diesem Orchester einen unvergesslichen Eindruck machte. Sein energiegeladenes Spiel und sein flexibler Ton bestimmten den Gesamtklang der Serenade von der ersten Minute an. Daneben glänzten auch die drei Hörner unter Solohornistin Jennifer Montone, die die Serenade mit ihrem stellenweise symphonischen Klangvolumen berauschend bereicherten. Gonzalez-Granados bekannte im ans Ende des Konzertes montierten Interviewauszug, dass Dvořáks Bläserserenade das erste Stück war, das sie jemals dirigiert hatte und ihr auch deswegen immer noch viel bedeutet.
Auch in den beiden vorangegangenen Werken dieses ganz von Nostalgie und Melancholie geprägten Konzertprogramms war es ein Genuss, der in Cali geborenen Dirigentin zuzuschauen. Sie behielt trotz der mit großen Zwischenräumen und Plexiglasschirmen abgeschotteten Orchesteraufstellung den Überblick und dirigierte präzise und immer wieder mitreißend.