Eigentlich wollte die Opéra Comique mit Regisseurin Jeanne Candel und Dirigent Raphaël Pichon im November ihre Türen für die Saison öffnen. Doch statt die Premiere mit pandemiereguliertem Publikum tatsächlich im Salle Favart erlebbar zu machen, zwang der neuerliche Kultur-Lockdown dazu, die Eröffnung per Livestream zu realisieren. Passenderweise stand eine Tragédie dafür auf dem Programm, der selbstverständlich mit dem apotheosen Prinzip noch ein freundliches Ende vorbehalten ist: Rameaus erste Oper Hippolyte et Aricie, die 1733 für Wirbel sorgte und endgültig die Lager der konservativeren Lullystes und der revolutionäreren Ramistes konstituierte. Sie wird schließlich nicht von seiner unikalen Sprache der Kühnheit und des fantastischen Temperaments ausgenommen, die der französischen Musik einen kolossalen Wendepunkt aufdrückte. Der Komponist verschloss sich aber auch nicht der Kritik an seinem Erstling, so dass er ihn 1757 der Revision unterwarf, den Pellegrin'schen Prolog zu streichen, Szenen umzustellen, zu ergänzen und die Geschichte schlüssiger zu machen.
Doch was heißt schon schlüssig? Diese von Pygmalion aufgespielte und weiteren Beschneidungen ausgesetzte letztere Fassung unternimmt den Versuch, das mythologische Hauen und Stechen rund um Racines Phèdre-Erzählung, also tödlich-amouröse Verwirrungen ganz eigener Art, darzustellen. Phaidra, Gattin des Theseus, liebt Stiefsohn Hippolyte, dieser jedoch der wohltuenden „Natürlichkeit“ im Absurditäten-Pfuhl zuträglich Aricie. Sie wird von Phaidra verbannt, die Mutter offenbart sich ihrem Sohn und möchte nach dessen Nein sterben. Theseus bleibt dieses Gefühlschaos nach der Rückkehr aus dem Hades nicht geheim und beauftragt Neptun, Hippolyte zu vernichten, weil er glaubt, der Spross wolle etwas von seiner Frau. Zum Glück weiß Jagdgöttin Diana als einzige Bescheid und rettet das genehme Liebespaar.
Die als avantgardistisch oder visionär angepriesene Arbeit Candels entpuppt sich dabei einerseits recht brav als Abbild der werklichen Kompromissfindung Rameaus, andererseits als die gleichfalls erwartbar zweckmäßige Regie unter Coronaumständen. So belibt die von Lisa Navarro entworfene Unterweltkulisse, bestehend aus bekanntem, kühlem Betongerüst mit Treppen und Aufzug, ab dem zweiten Akt das entscheidende Bühnenbild; zudem sind die Personenführungen (zusammen mit Lionel Gonzalez) klassisch gehalten, die Charaktere, jeder bis auf Diana natürlich mit seinen Schwierigkeiten, Makeln und Heldenzügen vorhersehbar beladen, festgezurrt und die mit Jagdgewehren bewaffneten, bezopften, sektenkultartigen Helferlein in weißen oder schwarzen Overalls meistens klar verteilt.
Dass es manchmal allerdings nicht so eindeutig erscheint, liegt nicht am Nebel, der aus dem Orchester aufsteigt, um Hippolytes Tod zu beschatten, sondern beispielsweise am merkwürdigen Sparparadies, in dem das Pärchen festgehalten wird. Oder an den Rigaudons und Divertissements in den Reichen Neptuns und Dianas. Vor der Invocation des Meeresgotts feiern übergroße Pappmaché- oder Gipsköpfe visagierter Damen und Herren vorjahrhundertigen Stils samt ihrer Bademoden zusammen mit der durch Kartontüten-Gesichter verfremdeten Putzkolonne Plutos eine Party, zu der sich statt des Seeungeheuers ein überdimensionierter Stierkopf gesellt, der Theseus aufgesetzt wird. Soll das etwa der rächende Riesenkopf sein, den sich Mann und Vater bei dem Berg an unmenschlich kollusiven Konflikten macht? Nicht ganz so einfach abstrus, dafür aber überbrückend unheiter mutet die Chasse in den Gefilden der wachsamen Göttin an, deren Platz sich zum Ende in ein pathologisch-klinisches Entsagungszentrum verwandelt, in dem die transportierten Liebenden ihre Vereinigung ganz tugendlich verklärt unter der Decke begehen dürfen.