Musica viva ist eine Konzertreihe für zeitgenössische Musik des Bayerischen Rundfunks. Vor 75 Jahren, 5 Monate nach Kriegsende fand das erstes Konzert dieser Reihe im ungeheizten Münchner Prinzregententheater statt. Am selben Ort wurde jetzt gerade noch rechtzeitig vor Beginn der neuen strengeren Lockdown-Maßnahmen in Bayern ein Konzertprogramm der Berliner Festspiele 2020 unter Mitwirkung von Musikern des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks neu aufgenommen. Zusammen mit den ausgezeichneten Solisten Tabea Zimmermann, Tamara Stefanovich, Jörg Widmann und Christian Gerhaher und Dirigent Stanley Dodds (als Geiger ist er auch Mitglied der Berliner Philharmoniker) spielten sie drei kammermusikalische Werke von Wolfgang Rihm.
Rihm (1952) hat bisher mehr als 400 Werke komponiert. Einige dieser Kompositionen überschreibt er in der Tradition alter Maler immer wieder neu. Sein Klarinettenkonzert Male über Male 2 war ursprünglich ein Solostück (4 Male, 2000) bevor es unter Hinzunahme von Streichern zu Male über Male (2003) wurde. In der zweite Übermalung wird dieselbe Klarinettenstimme nun von neun Instrumentalisten begleitet. In jeder Fassung entsteht ein vollkommen neues Musikstück. Solist Widmann, der selbst auch Komponist und als solcher Schüler von Rihm ist, beschreibt die Aufführungen als eine stets neue Reise, die abhängig von den Mitspielern jedes Mal einen unterschiedlichen Verlauf nehmen kann. Am gestrigen Abend (im Livestream noch bis Weihnachten mitzuerleben) war dies ein mehr als atembenehmender Ausflug in die Stratosphären musikalischen Ausdrucksvermögens. Widmann verführte, heulte, predigte, stammelte und säuselte, dass es eine Freude war. Bei seiner beeindruckenden virtuos aneinandergehakten Kette von Emotionsausbrüchen wurde er von einem brausenden und gleichermaßen einfühlsamen Ensemble bestehend aus jeweils zwei Harfen, Bratschen und Kontrabässen, einem Cello, Schlagzeug und Klavier unterstützt. Das so entstandene Klangkunstwerk war nach einem Duett zwischen getropften Klarinettentönen und beinah zärtlich gespielten Schlägen auf der großen Trommel nach etwas mehr als einer Viertelstunde viel zu schnell zu Ende.