Zur Zeit der Despoten der Aufklärung luden die Nachfolger Peters des Großen, Zarin Anna Iwanowna (seine Nichte), Elisabeth I. (Jelisaweta Petrowna Romanowa, seine Tochter) und Katharina die Große Komponisten aus dem Westen (Deutschland und Italien) ein, in St. Petersburg zu arbeiten. Heute sind deren Namen eher unbekannt: Hermann Raupach, Francesco Domenico Araia, Vincenzo Manfredini und Domenico dall'Oglio... die Partituren ihrer vergessenen Opern haben Russland niemals verlassen. Hier, in den Archiven des Mariisnki-Theaters, hat Cecilia Bartoli sie, mit Hilfe des Direktors des Theaters Valery Gergiev, ausgegraben. Derzeit bereist sie die Welt mit ihrem neuesten Projekt, der Welterstaufnahme einer Sammlung von Arien, die im 18. Jahrhundert für den kaiserlichen Hof von Russland komponiert wurden.
Die italienische Mezzosopranistin ist einer der Kassenschlager unter den klassischen Künstlern von Heute, und Decca haben keine Kosten und Mühe gescheut, für die Veröffentlichung der CD im Oktober ihre gut geölte PR-Maschine anzuwerfen. Etwas erstaunt von all dieser Werbung und mit einer Spur Zynismus habe ich meinen Platz in der randvollen Großen Halle des Concertgebouw eingenommen. Schon nach kurzer Zeit war ich völlig von dieser Darbietung vereinnahmt, und all meine Erwartungen wurden übertroffen.
Es ist einfach unmöglich, Cecilia Bartolis aufregenden Sinn für Spektakel nicht zu genießen, wenn sie einen großen Auftritt als Kaiserin macht im Mantel mit Schleppe, die beinahe die ganze, mit roten Teppich ausgelegte Treppe bedeckt, die zur Bühne des Großen Saales hinunter führt; oder als das Licht gedimmt wurde und das Orchester mit Vogelklängen wieder hallte, um den dunklen Wald von Francesco Domenico Araias „Pastor che a notte ombrosa“ heraufzubeschwören.
Es ist einfach unmöglich, nicht von ihrer warmen Bühnenpräsenz verzaubert zu werden: nicht nur die einnehmende Art, mit der Sie die die Hörer anspricht, sondern auch die Spontaneität, mit der sie beispielsweise dem Flötisten einen Kuss auf die Wange gibt und ihn einlädt, sich nach ihrem Duett in Domenico dall'Oglios „De miei figli“, einem filigranen, detailreichen Zusammenspiel von Stimme und Instrument, zusammen mit ihr zu verbeugen.
Man kann die Integrität einer Künstlerin, die Monate mit der Recherche ihres eigenen Materials zubringt, und die es dann mit solcher Energie und Leidenschaft an die Öffentlichkeit trägt, nur bewundern. In diesem Vorhaben ist Diego Fasolis der perfekte Partner. Der Dirigent, der hinter seinem Cembalo bisweilen beinahe tanzt, ziseliert den Klang seiner Barocchisti, um wunderschöne Details in diesen längst vergessenen Noten aufzudecken. Diese Titel sind keine bloßen Kuriositäten, sondern die Frucht talentierter Komponisten. Meiner Meinung nach war das originellste dieser kaiserlichen Kronjuwelen Hermann Raupachs „Idu na smert“ aus Altsesta, eine fesselnde und lyrische Arie für Königin Alkestis, als sie die Unterwelt verlässt. Es ist eine klassisch barocke da capo-Arie, doch mit russischem Libretto – und das beinahe 80 Jahre vor Glinkas Ein Leben für den Zaren, die mutmaßlich die erste russische Oper war.