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Die Dritte Reich-Show: Terry Gilliams Damnation de Faust erreicht die Staatsoper

Von , 29 Mai 2017

Fast sechs Jahre nach der Erstaufführung in London, ist Terry Gilliams Inszenierung von Berlioz’ La Damnation de Faust in Berlin angekommen. Berlioz’ prägnant erzähltes Stück beschreibt im Wesentlichen ein Jahrhundert deutscher Kultur, von der Romantik bis zum Holocaust. Es wieder in der deutschen Hauptstadt zu sehen – in der Zwischenzeit wurde es auch in der De Vlaamse Oper in Antwerpen und im Teatro Massimo in Palermo aufgeführt – heißt auch, es in einem etwas vorbelasteten Kontext zu sehen.

Wie schon zuvor, ist die größte Stärke der Inszenierung für mich auch das größte Problem. Gilliam liefert unbestritten eine großartige Show und das Bühnenbild (von Hildegard Bechtler) ist ungeheuer innovativ. Wir reisen von einem erinnerungsträchtigen Casper David Friedrichscape (wunderbar beleuchtet von Peter Mumford), zu einer witzigen Nachstellung des politischen Gezänks des Ersten Weltkrieges, dem Bürgerbräu-Putsch (Jan Martiniks Brander wird Hitler) und den Olympischen Spielen von Berlin bis zum Höhepunkt des Dritten Reiches: eine Straßenszene, Maguerites Zimmer ist im Obergeschoß eines der Gebäuden, in dem wir eine antisemitische Gewalteskalation sehen.

Aber obwohl es eine großartige Show ist, bleibt die Frage, ob es – bedenkt man was es darstellt – eine sein sollte. Und ich glaube nicht, dass es humorlos ist, Gilliams erschreckend unbedachten Darstellung der Geschichte zu widersprechen: immerhin umfasst sie die unfassbarsten und abgründigsten Schrecken sowie ein paar schicke Kostüme.

Schon von Méphistophélès’ einleitendem Mein Kampf-Scherz an ist der Ton der Inszenierung beunruhigend inkonsequent, wechselt schlagartig von Hochgefühlen zu Tiefsinnigkeit. Die Nazi-Tänze à la Frühling für Hitler sind alle ganz gut, aber sie stimmen nicht mit der vermeintlichen Ernsthaftigkeit Gilliams Gesamtkonzepts, wie ich es verstanden habe, überein: die Idee, dass die Intensität der deutschen Romantik im 19. Jahrhundert die Grundlage für die Geschehnisse im 20. bot. Es führt auch zu einem verworrenen Empfinden der Charaktere, und zu einer groben Missachtung Berlioz’ – durchaus lückenhafter – Erzählung.

Marguerite ist hier Jüdin, fantasiert aber verborgen darüber Arisch zu sein. Ihr Verbrechen (wie es uns durch eine kleine Änderung des Textes im vierten Teil erzählt wird) wird ihr Glauben, nicht der unbeabsichtigte Mord an ihrer Mutter. ‘D’amour l’ardente flamme’ wird zu einem Lied des Widerstandes (Magdalena Koženás wunderbar gesungene Darstellung drückte dementsprechend ihre Unbeugsamkeit anstatt jeglichen Sinnes für Erotik aus) als sie und ihre jüdischen Genossen in die Zugwaggons gepfercht werden. Fausts letzter Pakt bringt ihre Erlösung, als sie von einem himmlischen Chor an den Toren des (deutlich christlichen) Himmels empfangen wird. Aber den anderen Toten – vermutlich ebenfalls für ihren Glauben verdammt – bleibt dies anscheinend verwehrt.

Charles Castronovo ist ein exzellenter Faust, sein Tenor ist klar und elegant, aber sein Charakter wird zumeist nur zu einem Beobachter der Geschichte, die um ihn herum passiert, reduziert. Manchmal greift er ein, und oft zieht er sich in seine mit wissenschaftlichen Kritzeleien verzierte Kammer zurück, aber es ist nie ganz klar, ob er die Verkörperung des deutschen Geistes oder die eines Zuschauers ist, ob er aktiv oder passiv ist.

Mit Méphistophélès ist es ein ähnliches Problem. Florian Boesch überzeugt den gesamten Abend mit eindrucksvollem Charisma und maliziösem Charme, singt mit Autorität und Stil. Aber Méphistophélès darzustellen ist eine teuflische Angelegenheit, mit den Fingern schnippend den Verlauf der Geschichte zu ändern und eine Truppe an schmierigen Lakaien, scheint die Hauptprämisse der Inszenierung nur zu untergraben oder deutlich zu beschmutzen und verwirren, so wie auch Fausts eigene Verdammnis in eine Gift und Galle spuckende Hölle.

Natürlich ist die Inszenierung nicht dazu gedacht, sie ernst zu nehmen, sie einfach nur zu erleben anstatt eines albträumerischen, grotesken Wirbel an Bildern. Ich nehme an, auf diesem Level funktioniert sie, und sie ist ohne Zweifel eindrucksvoll ausgeführt. Aber Geschichte ist auch ein ernstes Thema – sowie auch Berlioz’ Werk. Gilliams Inszenierung tritt beides mit Füßen.

Simon Rattles Präsenz im Orchestergraben und eine gute Besetzung sicherten, dass zumindest Berlioz’ Musik ernst genommen wurde. Rattle dirigierte mit einem Gefühl für Klarheit und Balance, aber erlaubte der Musik, Höhepunkte selbst zu entwickeln, bot Extremen in ihrer rohen Gestalt. Er entlockte der Staatskapelle ein lebhaft virtuoses and eloquentes Spiel. Sowohl der Chor als auch der Kinderchor waren hervorragend, auch darin, sich in alles hineinzuwerfen, was ihnen die Inszenierung vorgab.

Man kann den Darstellern keine Schuld zuweisen, auch nicht der großen Gruppe an Extras und Tänzern. Aber für mich bleibt die hohle Oberflächlichkeit Gilliams’ Inszenierung zutiefst problematisch.

 

Aus dem Englischen übertragen von Elisabeth Schwarz.

***11
Über unsere Stern-Bewertung
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“obwohl es eine großartige Show ist, bleibt die Frage, ob es denn auch eine sein sollte”
Rezensierte Veranstaltung: Schillertheater: Großer Saal, Berlin, am 27 Mai 2017
Berlioz, Damnation de Faust, La (Fausts Verdammnis)
Staatsoper Berlin
Sir Simon Rattle, Musikalische Leitung
Terry Gilliam, Regie
Hildegard Bechtler, Bühnenbild
Katrina Lindsay, Kostüme
Magdalena Kožená, Marguerite
Charles Castronovo, Faust
Jan Martiník, Brander
Florian Boesch, Méphistophélès
Peter Mumford, Licht
Finn Ross, Video
Martin Wright, Chorleitung
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