In einem Interview im Programmheft wird Jürgen Flimm, Intendant der Staatsoper Berlin und Regisseur dieser Produktion, gefragt, warum er und sein Zeitgenosse Hans Neuenfels sich beide mit Puccinis Manon Lescaut befassen, jetzt, da sie „ein gewisses Alter“ erreicht haben. Er antwortet offensichtlich nicht für Neuenfels, doch seine Antwort ist interessant – wenn auch ein bisschen vage.
Er beschreibt das Werk als Sterntalergeschichte und bezieht sich auf trashige Literatur (Kolportage) und ihre musikalische Form, die Operette, ebenso wie auf die heutige Relevanz des Werkes. Er zieht Parallelen zu La traviata und bedeutet, dass der letzte Akt – mit seiner Beckett-gleichen Hoffnungslosigkeit – der Schlüssel zum gesamten Werk ist.
Es ist die letzte Szene, die wohl am beeindruckendsten ist in seiner Inszenierung, einer Koproduktion mit dem St. Petersburger Michailowski-Theater, wo sie 2014 Premiere feierte. Hier löst sich die Genauigkeit dessen, was davor kommt, auf, um sich ohne mit der Wimper zu zucken auf die Verzweiflung und das Verlassen von Manon und Des Grieux zu konzentrieren. Der letzte Moment ihres Todes ist mit packender Trostlosigkeit inszeniert. Die Wüste ist ein abstrakter Raum mit heruntergekommenen Relikten vorheriger Akte. Das ist dramatisch effektiv, wenngleich es nicht notwendigerweise einen Schlüssel zum Rest der Produktion bietet.
Eine Frage zur Werktreue weist Flimm ab und erklärt, dass er lediglich eine neue narrative Ebene über die bestehende Geschichte gelegt hat, die er recht geradlinig erzählt. Diese narrative Ebene beinhaltet das Versetzen der Handlung in die frühe Zeit des Films. Der erste Akt zeigt ein Casting bei „Sunset Motion Pictures“, bei dem Manon als Filmsternchen vorspricht. Geronte ist ein Filmproduzent, Des Grieux einer in einer langen Riege von verschieden kostümierten Statisten. Die Ereignisse des dritten und vierten Aktes scheinen, wenn man von der Projektion ausgeht, die das Intermezzo begleitet, vom wirtschaftlichen Zusammenbruch diktiert und statt Deportation im dritten Akt werden Manon, Des Grieux und die weiteren Statisten arbeitslos auf die Straße gesetzt.
Es gibt zugegebenermaßen ein wenig Raum für Verwirrung und Flimms eine große Veränderung – Manon kehrt schon am Ende des ersten Aktes zu Geronte zurück – hilft sicherlich nicht, mit einer ohnehin schon unsympathischen Protagonistin mitzufühlen... oder zu glauben, dass Des Grieux sie liebt. Roman Trekels trocken klingenden Lescaut sich in den Schatten herumtreiben und seine Schwester filmen zu lassen strapaziert den voyeuristischen Blickwinkel auch ein wenig. Doch die Handlung ist gut zu Fuß und George Tsypins Bühnenbild, unbeständig und leicht anzupassen, unterstreicht diese Wirkung. Robert Pflanz' Videos und Riccardo Massis schickem Schnauzbart als Des Grieux helfen, einen an Michel Hazanavicius' Oscar-prämierten Film The Artist zu erinnern.