Notizzettel vor dem zweiten Aufzug von Siegfried warnten vor sehr lautem Geräusch, doch nach diesem Akt, und stärker noch am Ende der Oper hatte man das Gefühl, dass diese Warnung am falschen Ort kam. Die Schüsse, als Siegfried Fafner ins Jenseits befördert, waren in der Tat ohrenbetäubend, doch das war nichts im Vergleich zu den seelischen Schocks einer Produktion, die wild entschlossen schien, gegen die bloße Idee narrativer Vollständigkeit zu arbeiten. Castorfs postmoderne Dramaturgie (er ist ein bekannter Vertreter des postdramatischen Theaters) verwandelte Wagners Handlung zu einer Collage zufälliger Gegensätze und Paradoxa, und während es zahlreiche visuell beeindruckende Augenblicke gab, so schien der Punkt des Ganzen doch zu sein, dass es kein größeres Ganzes gab, und dass es eigentlich nicht viel Sinn gab. Als solches ging der dritte Teil dieser Ring-Produktion beträchtlich weiter als das Rheingold, das lediglich eine Fehlinterpretation des Tons von Wagners Drama darstellte. Willkommen zu musikalischem [Post-]Drama.
Einige gemeinsame Motive im Zyklus waren bisher die folgenden: Macht wird oft durch die Ausbeutung von Frauen dargestellt (sowohl Wotan im Rheingold als auch Fafner hier haben ihre eine Horde Prostituierter); den Requisiten wird irgendwann im Laufe des Abends Gewalt angetan, und Dramaturg Patric Seibert mag am Ende die prominenteste Person der ganzen Produktion sein. Seine (gesanglosen) Rollen beinhalten bisher einen Barmann im Rheingold, einen Soldaten, der sich in der Walküre in einem Hühnerkorb versteckt, und in Siegfried sowohl den Bären im ersten Aufzug sowie den Kellner im dritten. Und es sind auch nicht nur Kurzauftritte im Stile Hitchcocks – er zog oft alle Augen auf sich, beispielsweise, als er zu Siegfrieds Schmiedelied headbangte.
Wie in den vorherigen beiden Teilen war das Bühnenbild von Alexander Denić wieder wunderschön anzusehen, doch enigmatischer als zuvor. Der erste Aufzug fand vor dem Hintergrund eines Steinbruches statt, dominiert von einem kommunistischen Mount Rushmore, mit gigantischen Köpfen von Marx, Lenin, Stalin und Mao anstelle der US-Präsidenten. Doch wo in früheren Teilen die Drehbühne nur einen anderen Blickwinkel auf denselben Aufbau gab, war die enthüllte Rückansicht im zweiten Aufzug eine gänzlich andere: ein Bereich vor der U-Bahn-Station am Berliner Alexanderplatz. Diese beiden Handlungsorte wechselten sich ab, und zahlreiche Szenen kreuzten von einem zum anderen: Die „Waldstimmungsszene“ begann im urbanen Umfeld, doch die letztliche Tötung Fafners ereignete sich im anderen. Die Videoprojektionen waren diesmal gnädigerweise weniger aufdringlich als vorher – ein genialer Moment während der Konfrontation Wotan-Siegfried im dritten Aufzug zeigte ihre Gesichter über zwei der Rushmore-Köpfe gelegt.
Es war eine Inszenierung, die sich keinerlei Mühe machte, Siegfried liebenswürdig erscheinen zu lassen. Im ersten Aufzug zerriss er Bücher und verbrannte sie, ein Akt schwer von symbolischem Nachklang (besonders von einem Berliner Regisseur), und nachdem er den angehenden Mörder Mime um die Ecke gebracht hatte, schütte er unnötigerweise einen Sack Müll über ihm aus. Abgesehen davon, dass er am Ende des ersten Aufzugs leichte Ermüdungserscheinungen zeigte, war Stefan Vinke durchweg bei guter Stimme. Als Mime war Andreas Conrad besonders gut darin, böswillige Freude auszudrücken, und man muss nicht erwähnen, das die unemphatische Inszenierung uns daran hinderte, jegliches Mitgefühl für ihn zu empfinden. Albert Dohmen zeigte sich stimmstark in der Rolle des Alberich, wenngleich sich die Produktion gegen unser Verständnis seiner Figur als Ur-Antagonist stellte.