ENFRDEES
The classical music website

Sinneswandel: Tosca in Aachen

Von , 14 September 2015

Tosca ist keine politische Oper, nicht in dem Sinne, in dem beispielsweise Fidelio eine ist, denn sie konzentriert sich eher auf das Gefühlsleben und die persönlichen Tragödien der Figuren, als eine Aussage zu machen, ein Argument anzubringen. Doch es ist dieser Tage schwierig für Regisseure, ihren Hintergrund von autoritärer Regierung nicht zu erforschen, und es ist ein Werk, das sich gut über sein originales, neapolitanisches Milieu hinaus aktualisieren lässt: schließlich hat es in den zwei Jahrhunderten dazwischen reichlich Pescaras gegeben.

Für diese Produktion kehrte Ludger Engels, der bis 2013 Chefregisseur in Aachen war, an das Theater zurück. Er siedelt Tosca in der Gegenwart an, in einer römischen Gesellschaft unter undefinierter, brutaler Herrschaft, eine, die – es wird immer offensichtlicher – mit der Kirche unter einer Decke steckt. Diese klerikale Mitschuld wird figurativ durch die Ortung der Oper in und um eine barocke, römische Kirche unterstrichen, die mit enorm vergrößerten Fotos evoziert wird. Der religiöse Hintergrund ist natürlich bereits angelegt: Floria Tosca ist eine tiefreligiöse Frau, was ihre Entscheidung, ihren Angreifer zu ermorden, zu einer tief verstörenden für sie macht – hier lässt sie auch ihre Kette mit Kruzifix auf Scarpias Schreibtisch fallen, als sie den Ort ihrer Tat verlässt, als versuche sie, Distanz zwischen ihren Glauben und ihre Tat bringen.

Engels' Motiv braucht Zeit, um sich präsent zu machen, doch am Ende des ersten Aktes beginnt man zu verstehen, wo es hingeht: während des Te Deums bereiten Nonnen ein paar Schulmädchen für Scarpias „Aufmerksamkeiten“ vor, und der Vorhang zu Akt I fällt, als sie ihr Schicksal erwarten (Scarpia ist doch sicherlich scheußlich genug, auch ohne, dass die Liste seiner Untaten um Pädophilie ergänzt wird). Nonnen und Priester sind auch zur Stelle, um nach Scarpias Mord die Spuren zu beseitigen (der zweite und dritte Akt laufen zusammen ohne Pause).

Zwischenzeitlich ist auch eine stumme, papstähnliche Gestalt vor Ort, während des Te Deums, besucht den Ort von Cavaradossis Folter, segnet schließlich die Exekution ab und liefert die Waffe, mit der der Küster (der weiterhin in den Rollen des Gefängniswärters und einem Ein-Mann-Erschießungskommando auftritt) den Maler erschießt. Traditionalisten werden mit Freude sehen, dass Tosca sich auf konventionellem Wege das Leben nimmt, als sie in ein blendend grelles Licht auf der Bühnenrückseite wirft, und ein Double der jungen Floria aus dem Schnürboden fällt – ein letzter Moment von eindringlichem visuellen Drama passend zur Musik.

Christian Vahls Bühnenbild hatte seine Tücken: Vahl schuf einen umschlossenen Würfel in einem ohnehin ziemlich engen Proszenium, sodass aller Raum beengt wirkte und das Sichtfeld des Publikums oft eingeschränkt. Allgemein mag diese Inszenierung eine kontroverse Fassung von Tosca für dieses Premierenpublikum gewesen sein (es gab Buh-Rufe für den Regisseur beim Vorhang), doch es ist erfrischend, ein paar wirkliche Ideen in einer Oper umgesetzt und erkundet zu sehen, die nur zu oft als simples Melodrama erscheinen kann.

Am Anfang der Vorstellung fürchtete ich, dass die Gesangsleistungen der Protagonisten mit der Kühnheit der Präsentation nicht mithalten können würde, doch es war eher ein Fall von Aufwärmen vor vollem Haus. Irina Popovas Tosca mag einige Details ihrer Linie wegen eines eher breiten Vibratos eingebüßt haben, doch sie hatte eindeutig den Umfang für eine Rolle, deren tiefere Lagen so manche Sängerin kalt erwischen kann, und ihre Überheblichkeit war dramatisch gehaltvoll und vielsagend. Als kurzfristige Vertretung für den ursprünglich geplanten Cavaradossi hatte der walisische Tenor Adriano Graziani keinerlei Probleme, seine Rolle auszufüllen – man merkte kaum, dass er nicht schon vom Anfang der Proben an dabei gewesen war, und seine agile Stimme war kommunikativ und lyrisch. Dem deutschen Bass Christian Tschelebiew fehlte es vielleicht an der stimmlichen unheilvollen Niedertracht, die die besten Scarpias auszeichnet, doch seine lebhafte Darstellung machte das wett, als er die sexuelle Frustration seiner Figur zum Ausdruck brachte, die seine Böswilligkeit anzutreiben schien. Pawel Lawreszuks Messner war düsterer als gewohnt und wort- und tongewandt gesungen; Jorge Escobars Angelotti vermittelte Furcht und Entschlossenheit. Lob gebührt auch Amelie Boeven, der versierten Sängerin des Hirten, die den Abend hindurch auch als junge Floria auftrat, ein Mädchen, dessen einziger Traum ein Leben auf der Bühne war – eine Verkörperung der Gefühle in Toscas berühmter Aria „Vissi d'arte“.

Von ein paar Premierenstolperern einmal abgesehen spielte das Aachener Symphonieorchester unermüdlich für Musikdirektor Kazem Abdullah, der sich der Kraft und Farbe in Puccinis Musik zuwandte und ihren Fluss mit authentisch italienischem Rubato durchzog.

 

Aus dem Englischen übertragen von Hedy Mühleck.

***11
Über unsere Stern-Bewertung
Veranstaltung anzeigen
“Irina Popovas Tosca... war dramatisch gehaltvoll und vielsagend”
Rezensierte Veranstaltung: Theater, Aachen, am 13 September 2015
Puccini, Tosca
Theater Aachen
Kazem Abdullah, Musikalische Leitung
Ludger Engels, Regie
Christin Vahl, Bühnenbild
Britta Leonhardt, Kostüme
Irina Popova, Floria Tosca
Adriano Graziani, Mario Cavaradossi
Christian Tschelebiew, Baron Scarpia
Patricio Arroyo, Spoletta
Johannes Piorek, Gefängiswärter
Jorge Escobar, Cesare Angelotti
Pawel Lawreszuk, Mesner
Stefan Hagendorn, Sciarrone
Sinfonieorchester Aachen
Opernchor Aachen
Kinderchor Aachen
Extrachor Aachen
A fear of fear: Poulenc's Carmélites in Aachen
****1
Kunst, Wahn, Liebe: Tristan und Isolde am Stadttheater Bern
****1
Whimsical Tempest takes Budapest by storm
***11
Ambition confuse de la Salomé bernoise
**111
Machtrausch und multiple Morde: Macbeth bei den Salzburger Festspielen
****1
Unter Strom: konzertante Norma mit Sonya Yoncheva in Baden-Baden
****1
Weitere Kritiken...