Langsam schleicht sich Wehmut ein darüber, dass der Große Saal der Tonhalle in wenigen Wochen für drei Jahre geschlossen wird. An diesem Abend jedoch ergab sich für ein aufstrebendes Talent, den Tschechen Jakub Hrůša, noch eine Gelegenheit, hier ein Gastspiel zu geben. Das Tonhalle-Orchester ist für ihn auf dem verlängerten Podium in Großformation erschienen.
1926 hat Bartók mit seinem Ballett Der Wunderbare Mandarin in Köln einen Skandal verursacht – heute ist das schwerlich nachvollziehbar. Zu sehr ist der zu Beginn dargestellte Straßenlärm in unserem Bewusstsein eingebrannt, haben sich die sozialen Normen verschoben. Man könnte gar behaupten, dass uns Bartók in der Szenerie abholt, aus der wir gerade in die angenehmeren Temperaturen des Konzertsaals geflüchtet sind! Schon bei den rollenden Streicherfiguren und dem wilden Gewusel und Gehupe der ersten Takte war offensichtlich, dass Hrůša mit seiner klaren, präzisen Zeichensprache den Klangkörper und die Partitur ganz im Griff hatte. Zugleich wurde deutlich, dass das Orchester mit Engagement und Begeisterung alles geben, mitgestalten wollte: Koordination und Artikulation blieben auch im dichten Klanggewebe jederzeit tadellos.
Das Tempo war anspruchsvoll, der dynamische Kontrast zur ersten Verführungsszene extrem: urplötzliche Stille, tiefe, liegende Noten untermalten das rasch dramatisch werdende Solo der Bassklarinette, der Dirigent formte mit Händen und Taktstock die Melodielinien. Plastisch konnte man sich die Ballett-Szenerie vorstellen. Hinreißend die Motorik dieser Musik, die dynamischen Konturen waren fließend, von Hrůša sorgfältig modelliert. Mit der dritten Verführungsszene mischt sich unmerklich fernöstliche Melodik dazu. Die Ankunft des Mandarins kündigt sich mit klaren, glänzenden Trompeten- und Posaunenklängen an. Danach erfolgte ein Wechsel zu matteren Klangfarben, warmer Celloklang zu sordinierten Violinen, und mit dem (imaginierten) Geschehen im Ballett wallt die Musik auf bis an die Schmerzgrenze, getrieben von virtuosen Blechsoli und Schlagzeug-Motorik. Das Stück entwickelt einen hinreißenden Zug vorwärts, endet fast mit einem Knall: eine Komposition, eine Interpretation aus einem Guss – hervorragend!
Im Schumanns Violinkonzert stand die Geigerin Isabelle Faust im Zentrum. Hrůša dirigierte schon das erste, fordernd-aufbegehrende Thema mit viel Schwung. Das intimere Nebenthema nahm er etwas langsamer, kehrte aber mit dem Hauptthema zum Originaltempo zurück. Vom Einsatz des Solos an dominierte die Stradivari „Dornröschen" die Szene: ausdrucksstark in der wunderbaren Melodik, warm, schwärmerisch, singend, von Isabelle Faust mit expressiver Agogik belebt. Das Instrument trug auch in virtuosem, technisch anspruchsvollem Figurenwerk problemlos durch den Orchesterklang. An den nachdenklich-bedächtigeren Stellen schien sich die Solistin zurückzulehnen, ohne den geringsten Verlust an mentaler Präsenz und Intensität, die Spannung auch in ganz leisen Partien haltend, mit minimalem Vibrato. Für mich ist dies ein Werk, dem ein Ehrenplatz unter den ganz großen Konzerten des 19. Jahrhunderts gebührt, das den Vergleich mit demjenigen von Brahms nicht zu scheuen braucht. Eine Schande, dass dieses Werk fast ein Jahrhundert in der Schublade ruhen musste! Der Grund dafür: der langsame Satz nimmt das Thema von Schumanns letzter Komposition, den Geister-Variationen, vorweg, was als Zeichen des geistigen Zerfalls gedeutet wurde. Dieses Thema ist von rührender Einfachheit, aber nichtsdestotrotz zog es einen unmittelbar in seinen Bann.