Bevor der feierliche Mozartklang aus dem Orchestergraben aufsteigt und die Stimmen des Chores sich zu einem Jubelgesang auf die Gnade der Götter erheben, muss das Volk von Kreta den Opfertod sterben. Idomeneo sitzt nach seiner sagenumwobenen Heimkehr aus dem Trojanischen Krieg als einziger Überlebender in einem Sessel. Seine Hände sind von Blut befleckt. Die Wiederaufnahme von Ingo Kerkhofs Inszenierung des Idomeneo am Nationaltheater Mannheim zeigt die grausame Wunschphantasie des Kriegsheimkehrers, der zur Erhaltung seiner väterlichen Autorität den eigenen Sohn tötet. Unter dem engagierten Dirigat von Rubén Dubrovsky und den subtilen Klangfarben des Orchesters gerät Kerkhofs Deutung zu einem variantenreichen Spiel um Machterhaltung und Opferbereitschaft, das in einer überwiegend neuen Sängerbesetzung den glücklichen Ausgang des Geschehens in Frage stellt.
Der eine absolutistische Herrschaft vertretende Idomeneo erleidet Schiffbruch. Nur durch ein Versprechen, das ihm Neptun in der höchsten Not abnimmt, kann er überleben. Das Opfer, welches der Meeresgott fordert, ist das Leben des ersten Menschen, dem der König an Land begegnen wird. Als Idomeneo an die Küste Kretas gelangt, steht dort sein Sohn. In der Mannheimer Inszenierung wird diese Vorgeschichte von einer unbekannten Frauengestalt, die aus Roland Schimmelpfennigs Drama Idomeneus rezitiert, nacherzählt. Während der kretische König in seinen Gemächern zwischen allen Stühlen verzweifelt nach Erlösung sucht, hat sich gleich einem Mahnmal an der Decke des alt und marode wirkenden Palastes ein großer Wasserfleck gebildet. Ein Seestück, das an der Rückwand hängt und je nach Lichteinwurf entweder das aufgewühlte Meer oder einen wolkenverhangenen Himmel zeigt, wird von ihm mit Farbe übermalt. An den Wänden blättert der Putz ab; Fäulnis zersetzt das Fundament seiner Regierung.
Der von Dirk Becker entworfene Bühnenraum wird zum Sinnbild eines alternden Königs, das übermächtige Gemälde zum Schauplatz seiner Angst. Als er seinen Sohn fortzuschicken sucht, wäscht der Regen die Farbe wieder ab. Die verwerfliche Tat ist enthüllt. Auf das Drängen des Oberpriesters hin will sich Idomeneo dem Schicksal beugen und Idamante vor dem als Opferaltar gebrauchten Billardtisch töten. Im letzten Augenblick greift Ilia in das Geschehen ein. Aus Liebe will die trojanische Prinzessin statt seiner sterben. Ein Orakelspruch erlöst Idomeneo von seinem Versprechen und ernennt Idamante zum aufgeklärten Herrscher über Kreta sowie Ilia zu seiner Gemahlin. Dies treibt nicht allein Elettra, der Idamante versprochen war, in den Wahnsinn.
Zum Finale liegen alle leblos am Boden. Da tritt die Unbekannte an Idomeneos Seite, beschmiert ihn mit Blut und legt ihm ein Messer in die Hand. Die von Inge Medert entworfenen Kostüme – einzig Ilia und Elettra wie auch die Unbekannte haben sich eines stattlichen Mantels bemächtigt – unterstreichen eine zum Handeln unfähig gewordene Herrschaftsriege von Männern in grauer, fahler Militärkleidung. Als sich Idomeneo umblickt, glaubt er sein Volk ermordet zu haben; kraftlos sinkt er vor dem Seestück in einen Stuhl. Da nimmt die unbekannte Frauengestalt im Umhang des Königs einen Eimer mit weißer Farbe und hinterlässt eine letzte Botschaft: „Mein liebster vatter, ich bin kein Narr mehr!“