Ein Opern-Oratorium in Latein und eine romantische Oper aus Russland. Auf dem ersten Blick zwei Werke, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Blickt man genauer hin, entdeckt man jedoch eine wichtige Gemeinsamkeit: Die Blindheit – das nicht Sehen können und nicht Sehen wollen – ist das verbindende Element in Lydia Steiers Produktion von Oedipus Rex / Iolanta an der Oper Frankfurt. Verstörend und schockierend stellt sie die Abgründe einer Gesellschaft dar, die sich unweigerlich selbst zu Grunde richtet und blind ihrem eigenen Ende entgegensteuert.
Die beiden Opern liegen 35 Jahre auseinander, weisen jedoch inhaltlich einige Parallelen auf, die Regisseurin gekonnt nutzt. Ihre Personenregie ist detailliert und schlüssig durchgearbeitet und wie ein roter Faden zieht sich das Thema von Sehen und Wahrheit durch den ganzen Abend.
Strawinskys Opern-Oratorium Oedipus Rex (1927) wird in der Frankfurter Neuproduktion in das Jahr 1933 versetzt. Das Bühnenbild von Barbara Ehnes ist dem Weimarer Reichstag nachempfunden. Als sich der Vorhang hebt werden Assoziationen von Bildern von Otto Dix oder George Grosz geweckt: Bilder einer kriegsgebeutelten Gesellschaft, hektisches Großstadtleben und alltägliches Elend. Die Folgen des erstes Weltkriegs sind noch deutlich zu erkennen: Kriegsversehrte und Verwundete auf der Bühne, Gasmasken und Stahlhelme.
Die Weimarer Republik, eine Zeit voller Krisen, in der sich das Volk von der Politik im Stich gelassen fühlt und in Aufruhr befindet, passt nur zu gut zum ebenso krisengeschüttelten Theben der Antike. Oedipus, der sich jahrelang vor der Wahrheit versteckt hat, muss sich seinen Ängsten stellen und erkennen, dass sich die Prophezeiung des Orakels erfüllt hat. Er hat seinen Vater getötet und seine Mutter zur Frau genommen. Der Auftritt Iokastes, einer wahren Rachegöttin, goldbehangen, in feuerrotem Kleid, bildet einen starken Kontrast zum düsteren Reichstag. Sie wird zum Symbolbild der längst vergangenen Dekadenz. Geradezu hypnotisierend gesungen von Tanja Ariane Baumgartner verlacht sie das Orakel und die Prophezeiung. Auch sie muss sich jedoch ihren Dämonen stellen.
Lydia Steier porträtiert eine Gesellschaft, die jenseits aller Moral- und Wertevorstellungen lebt und sich so selbst zerstört. Die Bombe droht zu platzen. Der zweite Weltkrieg wirft bereits seine Schatten voraus. Unter die Anwesenden im Reichstag mischen sich immer mehr Uniformierte, die einen Putschversuch planen. Die Oper endet mit der Machtübernahme Kreons, Oedipus’ Widersacher, die einen neuen Totalitarismus einläutet.
Musikalisch wurde dieses Werk von Sebastian Weigle und dem Frankfurter Orchester eindrucksvoll umgesetzt. Strawinskys Musik, die neben klassischen Elementen auch russisch-orthodoxe Kirchenmusik und Jazz enthält, dröhnte monumental und gewaltig durch den Saal mit einem Klang, der so bedrohlich wie Steiers Inszenierung war. Peter Marsh lieferte eine großartige Leistung in der Titelrolle ab. Seine hohe, helle Stimme überzeugt auch in tieferen Passagen. Der Bariton Gary Griffiths stellte Kreon als Oedipus’ Bruder und Gegenspieler ebenso überzeugend und realistisch dar.