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Begeisterung für Geografie und Blockflöte: Summerwinds-Eröffnung mit Concerto Köln

Par , 23 juin 2024

Vermitteltes vertiefter zu erfahren, gelingt entweder über praktisches Erleben oder die Kreativität des Imaginären. Was heute unverändert gilt, bedeutete für vormalige Zeiten, bei Zugehörigkeit zum Adel seine Erziehung mit einer Grand Tour abzuschließen; für die Bürgerlichkeit, sich Kontinent, Kultur, Geschichte und Sprachen durch gedruckte und erzählte Inhalte einzuprägen. Oder, wenn man auf einen musischen Lehrer trifft, eben durch mehr. So geschehen am Gymnasium Andreanum Hildesheim, an dem Direktor Losius den eigentlich trockeneren Unterricht zur Weitergabe von Wissen über die Welt durch die Didaktik des Gesangs, Theaters, der Dichtung und Konzerte gestaltete. Seinem Schüler Telemann gab er dadurch jedenfalls gehörige Anregung und Unterstützung, dem eigenen musikalischen Talent nachzugehen. Solches, das ihn zum angesehensten Komponisten Europas werden ließ, der just die Geografie und ihre historischen Eigenheiten durch Musikstile versatil in Noten setzte.

Max Volbers mit Concerto Köln
© Susanne Schulte

Ein Kompendium aus jenen von Telemann in zahlreichen originellen Suitensätzen verfassten Noten, denen der Musikwissenschaftler Adolf Hoffmann teils noch Länder, Fürstentümer und Regionen zuwies, wurde von diesem 1959 unter dem Namen Klingende Geographie erstellt, nachdem er die Singende Geographie aus 40 von Losius gereimten Liedern veröffentlicht hatte, die von Telemann für das Erdkundelehrbuch des Hildesheimer Direktors mit passender Musik unterlegt worden waren. Mit der Hälfte der Klingenden Georgraphie gingen Interpreten und Publikum auf musikalische Grand Tour im Programm Concerto Kölns und Max Volbers' beim Eröffnungskonzert des Internationalen Holzbläser-Festivals im Münsterland, Summerwinds; und zwar von Schottland über Mittel- West- und Südeuropa bis zum europäischen Teil der Türkei und Afrika.

Von gewitzt, folkloristisch, geschäftig, bedeckter und diplomatisch über stolz, ehrwürdig und erhaben bis zu launig und wuselig trafen die unterschiedlichen Akzente der vorgestellten Ecken und Völker auf die übersetzende Brillanz Concerto Kölns, das die Ausdrücke mit der Bewegungsvorgabe Konzertmeisterin Anna Dmitrievas und dem ensembleeigenen, phrasierungs- und rhythmusversierten Commitment in kraftvolle wie delikate Körperlichkeit verwandelte. Dabei wusste es zudem mit der Kirchenakustik durch angepasste Artikulation und Dynamik umzugehen und die ausgezeichnete Balance zu wahren. Ebenfalls speziell jene dann mit Solist Volbers, gebürtiger Münsteraner, der das Hauptzielland jeglicher Rundreise, Italien, in vier Konzerten für und mit der Blockflöte sowie deutschen und englischen, neapolitanischen und venezianischen Einschlägen vor geistiges Auge holte. Ensemble und direkt Betroffene ließen sich darin auch nicht durch den zwischenzeitlichen Saitenriss bei der Stimmführerin der zweiten Violinen, Justyna Skatulnik, aus ihrer beeindruckenden Souveränität bringen.

Erstes Beispiel war das von Volbers aus Bachs berühmten Instrumentalen für Geige und Cembalo arrangierte Altblockflötenkonzert in C-Dur, das bereits im rezensierten Rivalen-Programm vor sieben Wochen in Köln auftauchte; und das erneut begeisterte, im letzten Satz in den Soli gar noch rassiger erschien. Zweites Beispiel bildete ein Repertoirestück schlechthin, nämlich Sammartinis Concerto für Sopranblockflöte, dem Solist und Ensemble dennoch neue Facetten entlockten. Nahmen nicht allein Volbers' Markenzeichen schwungnehmender Bogigkeit und generell spektakulär virtuoser Spielklasse klanglich wie technisch gemeisterter Koloraturen in rasantesten Tempi ein, verpackte er darin noch Prisen Humor durch Phrasierung und Rubati, streckte bildlich den Arm aus zur drängenden Mitdrehung pittoresker Pirouetten und präsentierte sich und Italien zugeschriebene Marotten mit jenen selbst: selbstbewusst, kunstaffin, temperamentvoll und lebensfeiernd.

Mancinis mit da-chiesa-Charakter behafteter Sonata per Flauto in c-moll sollte das dritte Konzert sein, das in seinen fünf Sätzen die affekt-attributiven Assoziationen von quirlig, beschwörend, besinnlich, über das Dolce sinnierend und sich dessen vergewissernd sowie Leidenschaft zelebrierend hervorriefen. Mutete das finale Allegro dabei bereits wie ein nächtlicher Ausritt durch das wilde Schöne an, zirpten in Vivaldis für Sopranino rekonstruiertem Concerto RV312 zunächst die Vögel und Insekten wahnsinnig um die Wette. Schließlich kam bei dem selten so warm und elegant vernommenen Instrument große Wehmut über baldige Rückkehr in heimische Gefilde auf, doch brannte sich diese Grand Tour, wie es sich gehört, mit einem wahren Piazza-und-Palazzo-Feuerwerk für Blockflöte und Orchester durch Volbers und Concerto Köln in die Erinnerung ein.

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“ein wahres Piazza-und-Palazzo-Feuerwerk für Blockflöte und Orchester”
Critique faite à Apostelkirche, Münster, le 21 juin 2024
Telemann, Potpourri aus den Suiten TWV 55
Bach, Concerto per Flauto C-Dur
Sammartini, Concerto per Flauto F-Dur
Mancini, Concerto („Sonata“) per Flauto c-Moll
Vivaldi, Concerto pour violon en sol majeur, RV 312
Max Volbers, Flûte à bec
Concerto Köln
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