Schottland, Ende des 16. Jahrhunderts. Im Zuge der Konfessionsfehden zwischen Katholiken und Protestanten hat die Familie Ashton die gegnerische Familie der Ravenswoods, die Anhänger Maria Stuarts sind, verdrängt, und deren Schloss eingenommen. Mit einem Libretto auf Walter Scotts historischem Roman The Bride of Lammermoor schrieb Donizetti seine Lucia di Lammermoor 1835, zu einer Zeit, in der ganz Europa sich für die Geschichte und Kultur Schottlands interessierte. Neben seiner Folklore und seiner Mythen wurde das Publikum des 19. Jahrhunderts besonders von der vermeintlichen Wildromantik seiner gewaltvollen Kriege und Fehden angezogen. Diese Mode nutzte Scott für seinen Roman, der neben Donizettis Lucia zahlreiche weitere Werke inspirierte.
Auch, wenn Donizettis Oper sich nur allmählich im Repertoire des Teatro San Carlo in Neapel etablierte, an dem sie uraufgeführt wurde, so hat sie sich doch im 20. Jahrhundert trotz nur andeutender Partitur zu einem Standardwerk entwickelt: Lucia, gefangen in den Kämpfen ihrer eigenen Familie und der Familie Ravenswood, dem Feind in Liebe verbunden, doch dem Freund versprochen – das unglückliche Ende ist vorprogrammiert, vielleicht jedoch ebenso der Erfolg des Sujets: die Oper ist aus dem heutigen Repertoire nicht mehr wegzudenken. Bei einer regelmäßigen Aufführung und unzähligen Produktionen weltweit ergibt sich dadurch allerdings zunehmend die Schwierigkeit, den Plot auf immer neue, immer wieder fesselnde Weise umzusetzen. Anfang dieses Jahres feierte eine solche Neuproduktion Premiere an der Bayerischen Staatsoper in München, von der wir einen kleinen Einblick erhaschen konnten.
Die erste Hürde bei einer Inszenierung von Donizettis Lucia ist sicherlich die Partitur. Sie ist bisweilen recht wage und bietet statt klarer Anweisungen lediglich Skizzen oder Abkürzungen, von konkreten Angaben keine Spur – wie also gestalten? Diese Flüchtigkeit der Partitur war auch für Kirill Petrenko, Generalmusikdirektor der Staatsoper, eine besondere Herausforderung: „Diese Niederschrift wirft viele Fragen auf. Manchmal ist der Notentext nicht eindeutig, Begleitfiguren sind abgekürzt oder nur skizziert, andere Passagen gestrichen und revidiert.“ Die kritische Edition (von Gabriele Dotto und Roger Parker, Ricordi), die seiner Interpretation zu Grunde liegt, „versucht unter Einbeziehung einer großen Zahl zeitgenössischer Quellen auf alle diese Fragen einen Antwort zu geben. Das Spannende ist in diesem Fall, dass wir uns nicht auf die Lösungen der Herausgeber zu verlassen, sondern diese Stellen selbst abzuwägen haben und, weil im Autograph eben oft die letzte Konsequenz fehlt, hier eigene Entscheidungen treffen können und müssen.“