Für einige besonders kammermusikalisch Interessierte und Aufführende ist Georg Philipp Telemann zweifellos einer der größten (Barock-)Komponisten. So auch für mich. Abgesehen von den wissenschaftlichen Fakten über seine Schaffenskraft,Vielseitigkeit und Reputation zu Lebzeiten ließen mich seit früher Kindheit seine Tonmalerei, seine Melodieschönheit und sein Humor nicht mehr los. Das ständige Hören seiner Hamburger Ebb' und Fluth', Tafelmusik oder verschiedener Konzerte für Bläser, Flöte, Fagott und Viola haben mein Faible für Barockmusik und ihrer möglichst authentischen, differenziert interpretierten Wiedergabe geprägt. Dass der persönliche Lebensweg mit familiärem Erlernen der Musik, Jurastudium und Autorentätigkeit teilweise Parallelen zu dem des deutschen Weltbürgers im 17. und 18. Jahrhundert aufweist, ist natürlich bloßer Zufall.
Diejenigen, die Telemann vernachlässigen, mögen verständlicherweise anführen, er habe nicht die durchgearbeitete, kontrapunktische Genialität oder emotionale, trostspendende Größe Johann Sebastian Bachs. Die vielleicht als Jurist angeeigneten generalistischen (und damit negativ wahrgenommenen) Fähigkeiten stehen den meisterlich geniehaften Eigenheiten anderer Komponisten scheinbar entgegen. Berücksichtigt man Kollmanns Sun of Composers von 1799, scheint diese Meinung ebenfalls berechtigt, zeigt sie doch den schnell einsetzenden Bedeutungsverlust Telemanns bereits wenige Jahre nach seinem Tod. Das ging sogar soweit, dass sein Denkmal in Hamburg entfernt wurde! – obwohl vor allem Carl Philipp Emanuel Bach als Patenkind den Weg seiner kompositorischen Richtung (in Hamburg als Nachfolger des Director Musices) weiterging.
Ironischerweise berufen sich aber gerade Graun, Bach und Händel explizit auf Telemanns Wissen und Können. Auch Haydns Witz und Tonmalerei, z.B. in seinen Jahreszeiten oder der Schöpfung, erscheint mit dem Einsatz von Effekten der Pauken, Fagotte, Flöten und Hörner in einem anderen Licht. Gemeinsamkeiten weist neben den Festmusiken und Kantaten C.P.E. Bachs dessen Magnificat (sowohl im besonderen Aufbau als auch in der Besetzung) mit Telemanns Donnerode auf, die hier exemplarisch kurz vorgestellt werden soll. Bemerkenswert ist ausgerechnet, dass diese aus Anlass des Erdbebens von Lissabon am 1. November 1755 in Auftrag gegebene Musik treffenderweise Knall und Fall einer Barockgröße zeigt, deren verschüttgegangener Ruhm wieder häufiger an die Oberfläche geholt werden sollte, ist der vermischte Stil denn vielfach der Vergessenheit zum Opfer gefallen.
Die Donnerode von 1756 stellt neben den Tafelmusiken, der grandiosen Trauerkantate Du aber Daniel oder seiner Brockes-Passion eine der seinerzeit bekanntesten und nachweislich meist aufgeführten Kompositionen Telemanns dar. Als „eine der erhabensten Compositionen dieses Tonkünstlers, die keinen Fehler hat, als einige zu gewöhnliche Schilderungen des Donners u.d.gl.“ wurde sie beschrieben, und als Werk, das eine nicht unerhebliche Wirkung auf das Publikum gehabt haben soll:
Doch nicht nur aus Kommentaren wird deutlich, wie (mit minimalen kritikerimmanenten Einschränkungen) erfolgreich er mit seiner Kunst war, sondern auch aus der Tatsache, dass diese Kantate einen zweiten Teil hinzubekommen hat (der zweite Teil wurde 1760 komponiert und 1762 uraufgeführt, nachdem der erste Teil bereits dreizehnmal wiederholt und ab 1757 auch in Berlin aufgeführt worden war). Auf unnachahmliche Weise gelingt es Telemann in der Donnerode, das dramatische Ereignis genauso in Erinnerung zu rufen sowie es mit der – und damit wiederum zeitlich und vom Anlass losgelösten – theologischen Huldigung und dem Lobpreis Gottes zu verknüpfen.
So wird in der ganzen Kantate – wie der Titel aus „Donner“ und „Ode“ es sichtbar macht – neben der Dramatik, der musikalisch-tonmalerischen Naturgewalt und menschlichen Aufruhr stets der feierliche, ja positive Grundgestus allmächtiger Gotteskraft deutlich, hinter dem sich die (gläubige) Bevölkerung versammeln soll und kann. Auch wenn einige behaupten, der Verweis auf das Erdbeben tauche bei Telemann nur mittelbar auf, so zieht er sich für mich doch unzweifelhaft durch das ganze Werk, nicht nur durch die Pauke, sondern vor allem durch das Notenbild der Streicher und den dramatischen Gestus. Zudem darf der Text in seiner rhetorischen Figur nicht isoliert betrachtet werden, sondern stets im Gesamtbild.
Um seine Zuhörerschaft nicht abzuschrecken und zu beängstigen, diese Aussage von Erhabenheit nicht zusätzlich mit dem schon bestehenden und bekannten Fakt der Erdbebenheimsuchung zu negativ oder relativierend zu konnotieren, verzichtete der Textdichter auf die gesonderte Erwähnung des göttlichen Zorns. Diese Form der Ode ist zudem Grundlage seines Messias, der als weitergehendes, „radikales“ Werk „jenseits der Gattungsgrenzen“ der musikalischen Zeit steht. Des Weiteren überschreibt Telemann die Arien mit deutschen Empfindungen als Tempo- bzw. Interpretationsangabe beispielsweise mit Munter, Demütig oder Erhaben.